Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Brut freigaben. Es wurde wirklich langsam Zeit, dass ich aus diesem Spukschloss herauskam.
Oder zumindest aus diesem Flur. Ich brauchte eine Zigarette, und vielleicht konnten Judith und ich ja auch da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört hatten … möglicherweise die beste Art, die Nacht in dieser verdammten Ruine herumzukriegen.
Ich ging weiter, tastete mich mehr zur nächsten Tür, als dass ich wirklich etwas sah, und zögerte noch einmal, bevor ich die Hand nach der Klinke ausstreckte. Mein Kopf war zwar voll mit den verrücktesten Gedanken, aber zum Ausgleich hatte ich plötzlich Schwierigkeiten, mich an die banalsten Kleinigkeiten zu erinnern — hatte Judith gesagt, dass sie im Nebenzimmer untergebracht war? Vermutlich.
Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Aber mit ziemlicher Sicherheit hieß nicht bestimmt, und die Vorstellung, vielleicht ins falsche Zimmer zu platzen (und möglicherweise auch im falschen Moment — wer sagte mir denn, dass Judith und ich als Einzige auf die Idee gekommen waren, sich gemeinsam ein wenig die Zeit zu vertreiben?), war mir so peinlich, dass ich das Ohr gegen das Holz der Tür legte, um einen Moment zu lauschen. Nicht dass es weniger peinlich gewesen wäre, wenn in diesem Moment einer der anderen auf den Flur herausgetreten wäre und mich gesehen hätte …
Erneut hatte ich dieses unheimliche Gefühl des Beobachtetwerdens, und diesmal war es so intensiv, dass ich erschrocken herumfuhr und instinktiv die Arme hob, um mich im Zweifelsfall zu verteidigen. Aber natürlich war da nichts, wogegen ich mich hätte wehren können. Ich war allein mit der Dunkelheit hier draußen. Da war nichts, was sich herangeschlichen und zum Sprung geduckt hätte. Die einzigen Monster, die es hier gab, stammten aus meinem eigenen Unterbewusstsein. Schöne Grüße aus der Twilight-Zone, und einen guten alten Bekannten haben wir auch noch mitgebracht: Meine Kopfschmerzen waren wieder da, nicht mehr so unerträglich wie vorhin, aber von jener ganz bestimmten Art, die keinen Zweifel daran lässt, dass sie nicht wieder vergehen würden. Stöhnend rieb ich mir mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die Augen — nicht dass es irgendetwas genutzt hätte, außer dass ich hinterher für einen Moment noch weniger sah —, drückte dann die Klinke herunter und trat ein, ohne angeklopft zu haben. Wenn ich schon in eine peinliche Situation geriet, dann sollte es sich schließlich auch lohnen.
Die Tür schwang alles andere als lautlos auf, sondern knirschte wie das Vorzeigerequisit aus einem alten Hammer-Film, und obwohl es draußen auf dem Flur fast vollkommen dunkel war, sickerte doch genug graues Licht herein, um meinen eigenen Schatten mit einem absurd verzerrten Arm nach dem Bett greifen zu lassen. Hammer-Film, die Zweite. Anscheinend hatte dieser verdammte Traum nicht nur ein oder zwei Mitbringsel dagelassen, sondern ein ganzes Eierpaket wie das einer Spinne, das jetzt aufplatzte und nach und nach hunderte winziger, hässlicher Monster freiließ, die fröhlich durch meine Gedanken wuselten.
Das Zimmer war leer. Die Einrichtung war ungefähr genauso luxuriös wie die meines Appartements nebenan, nur dass das Bett völlig unberührt war; Laken und Decke so stramm gezogen, wie sie der letzte Bewohner dieses Raumes vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren zurückgelassen hatte. Das Kabuff roch genauso muffig und alt wie mein eigenes Zimmer und vor dem schmalen Dachfenster lastete dieselbe wattige Dunkelheit. Für einen winzigen Moment glaubte ich, etwas darin zu erkennen; eine flatternde Bewegung, die nicht da sein sollte und auch zu schnell verschwand, als dass ich ganz sicher sein konnte, ob ich sie wirklich gesehen oder mir nur eingebildet hatte: vielleicht eine von Judiths Fledermäusen, vielleicht auch nur ein Schatten, den die Spinnen in meinen Gedanken warfen. Ich sah nicht noch einmal hin. Judith war nicht hier, und so wie der Raum aussah, schien sie auch nicht hier gewesen zu sein. Das war sonderbar, denn mittlerweile war ich hundertprozentig sicher, dass sie mir vorhin erzählt hatte, sie hätte das benachbarte Zimmer. Vielleicht hatte ich mich einfach in der Richtung geirrt?
Ich trat wieder auf den Flur hinaus, schloss die Tür so leise hinter mir, wie ich es konnte — aus irgendeinem Grund schien mir das plötzlich ungemein wichtig, als hätte ein Teil von mir mit einem Male Angst, irgendetwas zu wecken, was lautlos und unsichtbar irgendwo in der Dunkelheit hinter mir lauerte —, und
Weitere Kostenlose Bücher