Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Kopfsteinpflaster des Hofes gewesen war, gähnte jetzt ein kreisrunder, bodenloser Abgrund, in den sie unweigerlich hineinstürzen würde.
Aber sie fiel nicht. Sie stürzte, drehte sich noch im Fallen auf die Seite und griff verzweifelt mit ausgestreckten Armen nach einem Halt, der grausam nahe und doch unerreichbar weit weg war, und im buchstäblich allerletzten Moment war von Thun hinter ihr, warf sich nach vorne und rammte ihr die Handflächen in die Seite.
Der Stoß versetzte ihr genau das entscheidende bisschen Schwung, das sie rettete. Statt in den schwarzen Schlund zu stürzen, prallte sie dicht daneben auf den Boden, kreischte vor Schmerz und hatte trotzdem noch die Geistesgegenwart, den Schwung ihres eigenen Sturzes auszunutzen und weiterzurollen.
Von Thun hatte weniger Glück.
Noch während Judith wimmernd über das Kopfsteinpflaster rollte, prallte er mit so grässlicher Wucht auf den Rand des Schachtes, dass ich zu hören glaubte, wie seine altersschwachen Knochen zersplitterten. Er schrie nicht, sondern stieß nur einen sonderbaren, seufzenden Laut aus und war im nächsten Sekundenbruchteil einfach verschwunden.
Ich hatte endlich das Ende der Treppe erreicht, stürmte mit einem verzweifelten Zwischenspurt an Ed und Stefan vorbei und setzte mit einem einzigen Sprung über den Abgrund hinweg, der plötzlich da klaffte, wo eigentlich das fünfhundert Jahre alte Kopfsteinpflaster des Burghofes sein sollte; ein Sprung, den ich normalerweise niemals gewagt hätte. Dicht neben Judith fiel ich auf die Knie (so wuchtig, dass ich vor Schmerz aufstöhnte), beugte mich über sie und versuchte sie herumzudrehen.
»Miriam!«, keuchte ich. »Was ist mit dir?«
Sie schlug nach mir. Die Bewegung kam zu schnell und zu unerwartet, sodass ihre Hand mit voller Wucht in mein Gesicht klatschte und mir zusätzlich die Tränen in die Augen trieb. Hastig richtete ich mich wieder auf, entging mit mehr Glück als Geschick einem zweiten Hieb und packte schließlich ihre Handgelenke. Judith schrie, bäumte sich auf und versuchte mit der schieren Kraft reiner Todesangst sich loszureißen. Dann, endlich, erkannte sie mich und hörte auf zu toben. Ich konnte regelrecht spüren, wie alle Kraft aus ihr wich. Statt weiter verzweifelt um sich zu schlagen, brach sie in meinen Armen zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen.
»Ich bin es!«, sagte ich hastig. »Frank! Es ist alles in Ordnung, beruhige dich! Sie ist weg!«
»Es … es tut mir Leid«, schluchzte Judith. Sie zitterte am ganzen Leib, und ich konnte die Hitze ihrer Tränen spüren, die an meiner Wange hinunterliefen. »Es tut mir Leid. Ich … ich wollte nicht —«
»Das ist schon in Ordnung«, unterbrach ich sie. »Hör auf, dich zu entschuldigen.« Verdammt, genau genommen war sie die Einzige in dieser Ruine, die bisher so etwas wie menschliche Regungen gezeigt hatte. Wieso also entschuldigte sie sich dafür?
»Ich … ich dachte … es war so …«
»Schon gut.« Ich legte ihr sanft den Zeigefinger über die Lippen und versuchte zu lächeln. Judiths Reaktion nach zu schließen schien es mir nicht sonderlich gut zu gelingen.
Sie war blass wie die sprichwörtliche Wand und zitterte am ganzen Leib. Ich konnte spüren, wie ihr Herz raste.
»Bist du verletzt?«, fragte ich vorsichtig. »Ich meine: Kann ich dich einen Moment allein lassen?«
Judith nickte zögernd. Ihre Augen waren groß und plötzlich fast schwarz vor Furcht. Sie hatte Todesangst ausgestanden und sie hatte sie noch immer. Trotzdem ließ ich nach einer weiteren Sekunde ihre Schulter los, richtete mich auf und drehte mich in der gleichen Bewegung herum.
Ellen, Stefan, Maria und Ed knieten hinter mir in einem asymmetrischen Kreis um das gut anderthalb Meter messende Loch, das sich im Burghof aufgetan hatte. Ed schwenkte seinen Handscheinwerfer hin und her und stocherte mit dem Lichtstrahl in die Tiefe, während Maria ununterbrochen von Thuns Namen rief. Behutsam ließ ich mich erneut auf Hände und Knie hinab und legte die letzten anderthalb Meter kriechend zurück. Abgründe waren noch nie mein Ding gewesen — vorsichtig ausgedrückt.
Was ich dann allerdings im hin und her tanzenden Licht des Handscheinwerfers erblickte, war kein Abgrund, der geradewegs bis zum Mittelpunkt der Erde hinabreichte, sondern ein kreisrunder, offensichtlich aus Beton gegossener Schacht, der nach allerhöchstens drei oder vier Metern in einem scharfen Knick endete. Verrostete Metallsprossen ragten aus dem rissigen
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