Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
herumhüpfen und den Anblick zu einem Ausschnitt aus einem bizarren Alptraum werden ließ. Etwas Schwarzes, Zappelndes hing in Judiths Haar, ein Fleisch gewordener Nachtmahr mit braunschwarzem Fell, seltsam flacher Nase, riesigen Ohren und langen, ledernen Schwingen, die wie wahnsinnig schlugen. Riesige rot glühende Augen starrten voller Mordlust und ich sah rasiermesserscharfe Krallen wie winzige, scharf geschliffene Skalpelle aufblitzen. Mein Herz schien auszusetzen und für die Dauer von einer oder zwei Sekunden schien die Zeit einfach stehen zu bleiben.
Dann brach der Bann. Ed hatte seine zitternden Hände endlich wieder weit genug unter Kontrolle, um den Scheinwerferstrahl genau auf Judith zu richten, mein Herz schlug endlich weiter, und aus dem blutsaugenden Vampir wurde wieder das, was er die ganze Zeit über gewesen war: eine Fledermaus, nicht einmal so groß wie eine Kinderhand, eher interessant als hässlich und hundertmal so erschrocken wie wir alle zusammen.
Judith schrie immer gellender, taumelte ziellos und schlug zugleich mit beiden Händen nach dem kleinen Flattertier, das sich offensichtlich mit den Krallen in ihren Haaren verfangen hatte. Sie hätte die winzige Fledermaus ohne Mühe abstreifen und davonschleudern können, aber sie wagte es nicht, sie wirklich zu berühren. Hysterisch schreiend rannte sie einen Moment lang ziellos herum und stürmte schließlich auf die offen stehende Tür zum Hof zu.
Und ich erwachte endlich aus meiner Erstarrung, zumindest weit genug, um krächzend Judiths Namen zu rufen und ungeschickt hinter ihr herzurennen.
»Judith! Um Gottes willen, bleib stehen! Es ist nur eine Fledermaus!«
Natürlich hörte sie meine Worte gar nicht, sondern geriet sichtlich mit jeder Sekunde mehr in Panik. Die Fledermaus ihrerseits flatterte immer heftiger mit den Flügeln, die bei jedem Schlag wie ledrige, dürre Hände in Judiths Gesicht klatschten, und versuchte sich loszureißen, aber ihre Krallen hatten sich im Haar verfangen; das einzige Ergebnis ihres verzweifelten Flatterns waren zwei dünne Rinnsale aus dunkelrotem Blut, die plötzlich über Judiths Stirn liefen.
»Bleib stehen! Um Himmels willen, bleib doch stehen!«
Judith rannte ganz im Gegenteil nur noch schneller, prallte, blind vor Panik, gegen den Türrahmen und schien die Treppe nach draußen mehr hinunterzustürzen als hinunterzulaufen, und wir alle — angeführt von von Thun, der absurderweise nicht nur die Führung übernommen hatte, sondern sich auf seine humpelnd unbeholfene Art eindeutig schneller bewegte als jeder andere — stürzten hinterher.
»Bleiben Sie stehen!«, schrie er. »Junge Dame, so bleiben Sie doch stehen! Es ist nur eine harmlose Fledermaus! Ich nehme sie weg!«
Judith blieb nicht stehen, sondern prallte nur ungeschickt mit der Hüfte gegen das steinerne Treppengeländer, fand wie durch ein Wunder ihr Gleichgewicht auch diesmal wieder und raste die Treppe hinab. Die Fledermaus hatte mittlerweile eine ihrer Krallen losgerissen und schlug noch verzweifelter mit den Flügeln. Ich konnte das Klatschen hören, mit dem ihre Schwingen Judiths Gesicht trafen. Ihre freie Klaue fuhr panisch durch die Luft und riss dünne, blutige Kratzer in Judiths Stirn.
»Nicht dorthin!« Von Thuns Stimme explodierte zu einem schrillen Kreischen, in dem blanke Todesangst zu hören war. »Um Gottes willen, NICHT NACH RECHTS!«
Es war zu spät. Judith hatte den Fuß der Treppe erreicht und wandte sich zielsicher genau in die Richtung, vor der von Thun sie gewarnt hatte, und in dem Sekundenbruchteil danach spürte ich wie in einer Art vorweggenommenem Déja-vu, was geschehen würde.
Judith stolperte. Die Fledermaus riss in einer verzweifelten Kraftanstrengung auch ihre zweite Kralle los und flatterte mit einem schrillen Pfeifen davon, wobei sie ein ganzes Büschel von Judiths Haaren mitnahm. Judith schrie erneut und diesmal vor Schmerz auf, geriet endgültig aus dem Gleichgewicht und kämpfte mit wild rudernden Armen darum, nicht zu stürzen. Vielleicht hätte sie es sogar geschafft, aber da, wo sie hintreten wollte, war plötzlich nichts mehr, denn der Boden hatte sich unter ihr aufgetan, um sie zu verschlingen.
Judith schrie. Ihre Arme wirbelten wie die außer Kontrolle geratenen Flügel einer Windkraftanlage, während sie — absurd langsam, aber auch mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit — weiter und weiter nach vorne kippte. Unter ihr war nichts mehr. Wo noch einen Herzschlag zuvor das uralte
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