Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
ich ihr mein Verhalten erklären.
Von Thun schlurfte als Erster aus der Küche und machte einen Schritt zur Seite, kaum dass er draußen in der Halle war — zweifellos aus keinem anderen Grund als dem, Ed und den anderen Platz zu machen, die sich deutlich schneller bewegten als er. Trotzdem hatte ich das verrückte Gefühl, dass er aus dem Licht floh, ein schmalschulteriger, böser alter Gnom aus einer anderen Dimension, dessen Element die Dunkelheit war. Ich verscheuchte den Gedanken und ging ein wenig schneller, sodass Judith und ich zwar als Letzte, aber dicht hinter den anderen die Küche verließen.
Etwas raschelte und Ed blieb erschrocken stehen und hob seine Lampe. Eine Sekunde lang zuckte der handdicke Lichtstrahl wie betrunken durch die Dunkelheit und für einen noch kürzeren Moment schien er irgendetwas zu streifen; zu schnell, um es wirklich zu erkennen, aber dennoch nicht schnell genug, um es nur zu einer Täuschung werden zu lassen. Etwas Kleines, seltsam taumelnd Fliegendes.
Judith stieß einen unterdrückten Schrei aus und klammerte sich instinktiv an meinen Arm und selbst Ellen fuhr deutlich erschrocken zusammen und hob mit einem Ruck den Kopf. »Was war das?«
»Nichts.« Ed stocherte mit dem Lichtstrahl hektisch in der Dunkelheit herum, aber das Flattern wiederholte sich nicht. Trotzdem … das Rascheln war immer noch da.
Irgendetwas bewegte sich über uns durch die Dunkelheit.
»Meine Freunde, ich bitte Sie«, sagte von Thun. Seine Stimme war noch immer so dünn wie zuvor, aber in der fast vollkommenen Schwärze, die uns umgab, wurde sie zugleich auch zu etwas anderem, sonderbar Bedrohlichem.
»Hier ist gewiss nichts, wovor Sie sich fürchten müssten.
Allenfalls ein paar Fledermäuse.«
»Fledermäuse?« Judiths Stimme wurde zu einem schrillen Flüstern und ich hätte von Thun für diese letzte Bemerkung am liebsten den Hals umgedreht.
»Sie nisten drüben im alten Turm«, erklärte von Thun.
»Manchmal verirrt sich eine von ihnen hier ins Haupthaus, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie vollkommen harmlos sind.«
»Fledermäuse?« In Judiths Stimme zitterte nun eindeutig Panik. »Ich … ich hasse Fledermäuse«, krächzte sie. Sie klammerte sich fester an meinen Oberarm. Ihr Griff tat mittlerweile weh, und ich konnte selbst durch ihre Fingerspitzen hindurch fühlen, wie rasend ihr Puls ging.
»Sie dürften auch gar nicht hier sein«, antwortete von Thun. »Diese Tiere sind zwar harmlos, aber sie richten trotzdem eine Menge Schaden an, und ihre … Hinterlassenschaften sind nicht nur unappetitlich, sondern ganz gewiss auch nicht hygienisch.« Ich konnte sein unwilliges Stirnrunzeln regelrecht hören.
»Eigentlich dürften sie gar nicht hier drinnen sein. Ich habe strengste Anweisung gegeben …« Er brach mit einem ärgerlichen Schnauben ab, und ich konnte hören, wie er sich irgendwo in der Dunkelheit vor uns bewegte. »Da sehen Sie es — die Tür ist offen. Und dabei hatte ich strengste Anweisung gegeben, dass die Türen immer und unter allen Umständen geschlossen zu sein haben! Ich werde Carl gleich morgen früh einen strengen Verweis erteilen, mein Wort darauf.«
»Jetzt übertreiben Sie nicht«, maulte Ed. »Es ist schließlich nur eine Fledermaus, kein Vampir!«
Das war zweifellos scherzhaft gemeint, aber niemand lachte, und ich konnte spüren, wie Judith erneut zusammenfuhr und sich noch stärker an mich klammerte.
Ungefähr eine Sekunde lang. Dann erscholl das sonderbare Flappen und Rascheln erneut, nur näher diesmal, fleischiger, und im nächsten Augenblick schrie Judith gellend auf. Ihre Fingernägel gruben sich so fest in meinen Oberarm, dass ich warmes Blut über meinen Bizeps rinnen fühlte, und noch bevor ich in irgendeiner Form darauf reagieren konnte, riss sie sich los und stürzte, immer noch schreiend, davon. Instinktiv streckte ich die Hand nach ihr aus, griff ins Leere und verlor durch die neuerliche abrupte Bewegung beinahe das Gleichgewicht, sodass ich einen hastigen Seitwärtsschritt machen musste, um nicht auf die Nase zu fallen. Irgendwo links von mir ließ Ed ein unwilliges Grunzen hören und schwenkte seinen Scheinwerfer herum — und im nächsten Augenblick war Judith nicht mehr die Einzige, die schrie.
Von Thun hatte gelogen. Es gab Monster in diesem Schloss und eines davon war mit Zähnen und Klauen über Judith hergefallen.
Ed verriss mit einem erschrockenen Keuchen den Scheinwerfer, was das Licht in stroboskopischen kleinen Sprüngen
Weitere Kostenlose Bücher