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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Beton und ein muffiger, ganz sacht aber auch nach Verwesung riechender Lufthauch schlug mir entgegen.
    »Herr von Thun!« Marias Stimme zitterte vor kaum noch unterdrückter Panik. »So antworten Sie doch! Was ist mit Ihnen?«
    »Wahrscheinlich ist er tot, Schätzchen«, sagte Ellen.
    »Oder zumindest bewusstlos. Du kannst also aufhören, hysterisch herumzuschreien.«
    »Ich habe nur —«
    »Und sei es nur, damit wir seine Antwort auch verstehen, falls er antworten sollte«, fuhr Ellen ungerührt fort. »Gute Idee?«
    Maria schenkte ihr einen bösen Blick, hielt aber gehorsam die Klappe — trotz allem hatte Ellen eindeutig Recht —, und auch ich maß Miss Allwissend mit einem raschen Blick. Allerdings bereute ich es auch fast im gleichen Moment. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung, bestenfalls eine Andeutung analytischer Neugier. Es mochte zwar verrückt sein, bestenfalls irrational, in einem Augenblick wie diesem, aber in diesem Moment hasste ich sie beinahe. Sie war nicht cool. Sie war unmenschlich.
    »Der Schacht scheint hinter dem Knick kaum noch Gefälle zu haben«, sagte Stefan nachdenklich. »Vielleicht kann man hinuntersteigen.«
    »Mit man meinst du dich?«, vermutete Ed. Er hob die Lampe und richtete den grellen Strahl direkt auf Stefans Gesicht, ließ den Scheinwerfer aber hastig wieder sinken, als er das Aufblitzen in Stefans Augen sah.
    »Es sei denn, du willst es tun«, antwortete Stefan.
    »Niemand wird in diesen Schacht steigen«, mischte sich Ellen ein. Eigentlich schade. Ein — nicht ganz so kleiner — Teil von mir hatte sich bereits mit dem Gedanken angefreundet, dass mir Stefan vielleicht die Mühe abnehmen würde, Ed die Fresse zu polieren. Aber was nicht war, konnte ja noch werden …
    Ed arbeitete jedenfalls daran. »Ach?«, fragte er. »Wer hat dich eigentlich zum Anführer gemacht?«
    »Die Vernunft«, antwortete Ellen gelassen. Sie machte eine Geste in den Schacht hinab. »Keiner von uns weiß, was dort unten ist. Vielleicht hat Stefan ja Recht, aber genauso gut kann es da unten zwanzig Meter senkrecht in die Tiefe gehen. Oder auch hundert.« Sie schüttelte heftig und auf eine Art den Kopf, die keinen Widerspruch mehr zuließ. »Selbst wenn von Thun noch lebt, ist ihm nicht damit geholfen, wenn wir zwei Verletzte bergen müssen.«
    »Das mag sein«, antwortete Stefan. »Aber ich sehe trotzdem nach. Vielleicht liegt er dort unten und ist schwer verletzt.«
    »Aber das ist doch -«, begann Ellen. Stefan brachte sie mit einem eisigen Blick zum Schweigen und Ed setzte wieder sein Idiotengrinsen auf.
    »Und wenn du dich irrst?«, fragte Maria besorgt. »Ich … ich halte das für keine gute Idee. Wir sollten lieber Hilfe rufen. Da müssen Experten ran … Vielleicht … vielleicht die Feuerwehr oder … oder ein Rettungsteam.«
    »Tolle Idee«, sagte Ellen verächtlich. »Leider funktionieren hier keine Handys. Dieses verdammte Tal ist ein einziges Funkloch. Nichts zu machen.«
    »Und woher willst du das wissen?«, fragte Maria.
    »Sie hat Recht.« Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Der Taxifahrer hat mir dasselbe erzählt. Nicht einmal der Radioempfang funktioniert hier richtig.«
    »Ich steige hinab.« Stefans Stimme hatte nicht mehr den Tonfall einer Frage. »Macht euch keine Sorgen. Ich bin Freeclimber. Zwar ein bisschen aus der Übung, aber …«
    »Gibt es eigentlich irgendetwas, was du nicht kannst?«, fragte Ed.
    »Eine Menge.« Stefan ließ sich auf Hände und Knie herabsinken, drehte sich um und angelte mit dem Fuß nach der obersten Sprosse. »Dumme Sprüche ertragen, zum Beispiel. Sie haben mich aus dem SEK rausgeschmissen, weil ich meinen Vorgesetzten verprügelt habe, weißt du?«
    Ellen lachte leise und auch ich konnte ein Grinsen nicht mehr ganz unterdrücken. Wahrscheinlich war das nicht wahr, aber Ed hatte die Botschaft verstanden und hielt die Klappe. Wortlos sah er zu, wie sich Stefan vorsichtig weiter über den Rand des Schachtes schob und den Fuß auf die zweite Eisensprosse setzte, die aus dem Beton ragte. Es knirschte hörbar und Stefan erstarrte für einen Moment. Ich ertappte mich dabei, wie ich diesen Muskelprotz beneidete.
    Für ihn schien die Welt ein viel einfacherer Ort zu sein als für mich. Ein Ort, an dem es keine Herausforderung gab, die er nicht meistern konnte.
    Stefan verharrte noch eine weitere Sekunde vollkommen reglos, dann atmete er hörbar ein und tastete nach der nächsten Sprosse. Nach wenigen Augenblicken hatte er den Boden des Schachtes

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