Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
natürlich nicht zu, Ihnen irgendwelche Vorschriften zu machen, aber Sie alle brauchen morgen wirklich einen klaren Kopf.« Er suchte einen Moment sichtlich nach Worten und fuhr mit einem angedeuteten und alles andere als überzeugend wirkenden Lächeln fort:
»Darüber hinaus ist es nicht ganz ungefährlich, sich im Dunkeln hier im Haus zu bewegen.«
»Weil uns das Schlossgespenst in den Hintern beißen könnte?«, fragte Ed.
»Das Gebäude befindet sich in keinem besonders guten Zustand«, antwortete von Thun vollkommen ernst. »Ich würde Ihnen nicht empfehlen, auf eigene Faust auf Erkundung zu gehen. Nicht dass es wirklich gefährlich wäre, aber man muss ja kein überflüssiges Risiko eingehen, nicht wahr?«
»Wie zum Beispiel das, uns unbeobachtet zusammen in einem Zimmer sitzen zu lassen?«, flüsterte Judith. »Hat er Angst, dass wir irgendetwas herausfinden?«
»Nein, junge Dame, das habe ich nicht«, antwortete von Thun indigniert. »Ich möchte nur nicht, dass Ihnen etwas zustößt. Sie wollen doch den vielleicht wichtigsten Tag Ihres Lebens nicht mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus verbringen, oder?«
Judith fuhr sichtlich zusammen und auch ich starrte von Thun einen Herzschlag lang mit offenem Mund an. Judith hatte geflüstert. Sie stand so dicht neben mir, dass ich ihr Parfüm riechen konnte, und trotzdem hatte ich ihre Worte eher erraten als wirklich verstanden. Von Thun schien buchstäblich Ohren wie ein Luchs zu haben.
»So … so habe ich das auch nicht gemeint«, stammelte Judith. »Ich wollte … eigentlich nur sagen, dass —«
»Vielleicht sollten wir wirklich tun, was Herr von Thun uns rät, und schlafen gehen«, fiel ihr Ellen ins Wort. »Wir sind alle müde und entsprechend gereizt. Ein paar Stunden Schlaf tun uns sicher gut. Morgen früh sieht die Welt bestimmt schon ganz anders aus.« Sie lächelte ihr unerschütterliches Lächeln, während sie das sagte, aber der Blick, mit dem sie Judith streifte, war beinahe beschwörend. Vermutlich hatten Ellen die gleichen Worte auf der Zunge gelegen wie die, die Judith laut ausgesprochen hatte, aber diesmal gab ich ihr Recht: Irgendetwas stimmte mit diesem angeblichen Anwaltsgehilfen nicht, aber wir würden es ganz bestimmt nicht herausfinden, solange er dabei war. Vielleicht waren wir besser beraten, wenn wir folgsame Kinder waren und brav ins Bett gingen, um uns später noch einmal zu treffen, sollte es nötig sein.
»Ich wollte wirklich nicht —«, begann von Thun, schien dann aber einzusehen, dass er die Situation nur noch peinlicher machen konnte, und brach mitten im Satz ab. Ed setzte dazu an, eine seiner überflüssigen Bemerkungen loszuwerden, aber dann fing er im letzten Moment einen warnenden Blick aus Ellens Augen auf und beließ es bei einem Achselzucken und einem schiefen Grinsen. Statt sich weiter zum Narren zu machen (falls das überhaupt noch ging …), trat er wieder an den Tisch zurück, nahm den’ wuchtigen Handscheinwerfer auf, der darauf lag, und schaltete ihn ein. Der Strahl kam mir sonderbar blass und kraftlos vor, während er ihn herumschwenkte, aber als er die Lampe auf die offen stehende Tür hinter von Thun richtete, verwandelte er sich in ein gleißendes Lichtschwert, das die Dunkelheit draußen in der Halle teilte. Der Anblick hatte allerdings nichts Beruhigendes. Wie schon einmal hatte ich im Gegenteil das Gefühl, dass das Licht die Schwärze, die die Eingangshalle erfüllt, nicht wirklich vertrieb, sondern nur zu etwas anderem werden ließ; etwas, was mehr Substanz hatte, als es haben durfte, und in dem sich vielleicht etwas bewegte …
Ich versuchte den Gedanken als so albern abzutun, wie er ja schließlich auch war, aber es gelang mir nicht wirklich; und darüber hinaus schien ich nicht der Einzige zu sein, dem es so erging. Marias Schultern sanken noch ein wenig weiter herab, als sie es ohnehin taten, und die Schritte, mit denen sie hinter Ed und Stefan in Richtung Tür ging, waren eindeutig zögernd, und auch Judith rückte noch dichter an mich heran und griff instinktiv nach meiner Hand. Ich entzog mich ihrem Griff — nicht weil mir ihre Berührung unangenehm war, sondern weil ich mir nach von Thuns Auftritt einfach albern vorgekommen wäre, Hand in Hand mit ihr brav wieder in mein Zimmer hinaufzugehen. Judith runzelte die Stirn und sah vielleicht auch ein bisschen verletzt aus, aber sie sagte nichts und rückte auch nicht weiter von mir weg. Spätestens wenn wir wieder im Zimmer waren, würde
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