Nemesis 02 - Geisterstunde
Selbstsicherheit zurück. »Und?«
Stefan wollte antworten, aber diesmal kam ihm Judith zuvor. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Carl«, sagte sie. »Keiner von uns ist scharf auf Ihr Nazigold.« Sie schüttelte heftig den Kopf, um ihre Behauptung zu unterstreichen. »Wir brauchen es nicht. Sie wissen doch, warum wir hier sind.«
»Nein«, behauptete Carl.
Judith bedachte ihn mit einem kurzen, beinahe mitleidigen Blick. »Nichts für ungut, Carl – aber Sie wären der erste Hausmeister, der nicht lauscht.« Sie machte eine rasche Geste, als er widersprechen wollte. »Selbst wenn ich auf einer Kiste dieses schmutzigen Goldes sitzen würde, würde ich es nicht anrühren.«
»Warum fragt ihr nicht sie?«, murrte Carl mit einer trotzigen Bewegung in Marias Richtung. »Sie weiß doch sowieso alles besser.«
»Weißt du es?«, fragte Stefan, zwar an Maria gewandt, aber noch immer, ohne Carl einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen.
Maria antwortete nicht gleich und ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Ihr Blick irrte fast hilflos durch den kleinen halbdunklen Raum. »Keine Ahnung«, gestand sie schließlich.
»Ich denke, du lebst hier?«, fragte Stefan.
»Das stimmt«, antwortete Maria. »Unsere Familie lebt schon seit ein paar Generationen hier in Crailsfelden.
Aber ich war damals ja noch nicht einmal geboren. Es gab Gerüchte ...«
»Gerüchte?«, fragte Judith.
Maria druckste einen Moment herum. »Die Leute ... reden nicht gerne über das Schloss. Aber mein Vater hat ein paarmal davon erzählt, dass die Nazis hier ein und aus gingen. Hohe SS-Leute und Soldaten.« Sie hob die Schultern. »Es wäre möglich.«
»Ein paar Millionen in Nazigold, versteckt in einem Kinderheim?« Judith wiegte den Kopf. »Eigentlich ein perfektes Versteck. Ich meine – wer würde es schon hier vermuten?«
»Carl«, sagte Stefan trocken.
Carls Miene nahm nun eindeutig den Ausdruck des zu Unrecht Verdächtigten an, aber er war kein besonders guter Schauspieler. Plötzlich konnte ich Stefans unverhohlene Wut viel besser verstehen. »Sie sind ein solcher Idiot«, sagte ich. »Von Thun ist wahrscheinlich tot, und Ed und mich hätte es um ein Haar ebenfalls erwischt, und das alles nur, weil Sie hier den kleinen Schatzsucher spielen und Angst haben, wir könnten Ihr schmutziges kleines Geheimnis entdecken. Man sollte Sie ...«
»Beruhige dich«, sagte Judith. »Es nutzt keinem, wenn wir jetzt alle durchdrehen.«
Sie legte mir beruhigend die Hand auf den Unterarm, aber es war sehr viel weniger ihre Berührung, die mich davon abhielt, weiter auf Zerberus zuzugehen und etwas deutlich Drastischeres zu tun, als ihm nur die Meinung zu sagen. Es war vielmehr der ruhige, durch und durch vernünftige Klang ihrer Stimme. Ich zwang mich, die Augen zu schließen und zwei-, dreimal gezwungen tief ein- und auszuatmen. Was ging hier vor? Sicher, ich hatte jeden Grund, wütend auf Carl zu sein. Aber das war es nicht allein. Es war noch mehr, etwas, was mich fast vor mir selbst erschrecken ließ. Verdammt, ich hatte gefühlt, wie es wieder gekommen war – diese ... ruhige Kälte, die von außen in mich einzudringen schien, die in jeden von uns einzudringen versuchte, die nach unserem Verstand und unseren Herzen griff und eine plötzliche brutale Lust am Leid, eine fast sadistische Freude am Schmerz anderer weckte, von der ich bis jetzt noch nicht einmal geahnt hatte, dass sie in mir schlummerte. Es war einzig Judiths Stimme gewesen, die mich im letzten Augenblick zurückgerissen hatte. Das Menschliche in ihr.
»Was heißt hier durchdrehen?«, entgegnete Stefan gereizt. »Ich finde, Frank hat völlig Recht. Wir sollten den Kerl ...«
»... nach oben in die Küche bringen, dann sehen wir weiter«, fiel ihm Judith ins Wort. Sie sah sich mit allen Anzeichen deutlichen Unbehagens um. »Ich will hier raus. Ich kriege keine Luft mehr hier drinnen.«
»Meinetwegen«, murrte Stefan. Ich sah ihm an, dass es ihm nicht anders erging als mir, kein bisschen. Plötzlich war ich unendlich froh, dass Judith bei uns war. Vielleicht hätte Carl dieses Kellergewölbe ansonsten nicht mehr lebend verlassen – oder auf jeden Fall nicht unbeschadet. Die dünne, flüsternde Stimme war noch immer in meinem Kopf. Wer sollte ihn hier unten schon finden?
Wer sollte uns alle hier finden?
Ich fröstelte, wand mich aus Judiths Griff und drehte mich zum Ausgang, und auch Stefan ergriff sich einen der Handscheinwerfer und machte eine
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