Nemesis 02 - Geisterstunde
als wäre sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben unzufrieden darüber, dass sie, so wie vorhin, ihren Job so gut gemacht hatte. Wahrscheinlich war es weniger die Sorge um Carl, die mich schließlich doch bewog, mich herumzudrehen und Judith zur Tür zu folgen, sondern vielmehr die Gewissheit, dass ich hinübergehen und Ed den Hals umdrehen würde, wenn er auch nur noch eine einzige dumme Bemerkung machte.
Außerdem hatte Judith Recht. Wir brauchten Carl noch.
Und sei es nur, um der Polizei einen Verdächtigen präsentieren zu können, auf den wir alle anklagend mit dem Zeigefinger deuten konnten. Während Maria mit Ellen und Ed in der Küche zurückblieb, eilten wir den beiden rasch nach.
Carl war nicht besonders weit gekommen. Stefan hatte ihn auf der anderen Seite der Halle eingeholt und zu Boden gerungen. Er wehrte sich nach Kräften und strampelte mit den Beinen, aber genauso gut hätte er auch versuchen können, seinen verkeilten Wagen mit bloßen Händen aus der Toreinfahrt zu zerren. Stefan hielt ihn mühelos und mit nur einer Hand nieder, während er ihm mit der anderen den Arm auf den Rücken drehte; und das deutlich fester, als unbedingt nötig gewesen wäre.
»Das reicht«, sagte Judith. »Du musst ihm ja nicht unbedingt gleich den Arm brechen.«
»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Stefan. Er stand auf und riss Carl dabei so grob auf die Füße, dass dieser ein schmerzhaftes Wimmern hören ließ. Der Ausdruck auf Stefans Gesicht gefiel mir gar nicht. Carl hatte ihm die Lippe blutig geschlagen, und ich schätzte Stefan nicht als einen Menschen ein, der so etwas mit einem Achselzucken abtat.
»Helft mir«, wimmerte Carl. »Der Kerl bringt mich um!«
»Kaum«, sagte Judith gelassen. Sie lächelte dünn.
»Jedenfalls nicht, bevor Sie uns nicht die Wahrheit gesagt haben.«
»Aber das habe ich!«, protestierte Carl. »Ich bin doch nicht verrückt! Warum sollte ich von Thun auch nur ein Haar krümmen? Ich wäre doch wahnsinnig, irgendetwas zu tun, was die Bullen auf den Plan ruft! Außerdem kannte ich den Alten doch gar nicht!«
»Da ist was dran«, sagte Judith, schüttelte aber trotzdem den Kopf. »Immer vorausgesetzt, wir kennen schon die ganze Geschichte.«
»Oh, die kriegen wir schon noch raus«, versprach Stefan. »Nicht wahr?« Er unterstrich seine Frage mit einem kurzen Ruck an Carls Arm, der diesem ein neuerliches schmerzerfülltes Ächzen entrang, drehte ihn mit einer unsanften Bewegung herum und versetzte ihm einen Stoß, der ihn ungeschickt lostaumeln ließ. Ich suchte vergeblich nach einer Spur von Mitgefühl in mir.
Judith und ich folgten ihm, aber sie machte nur einen einzigen Schritt, bevor sie wieder stehen blieb und mit einem erschrockenen Ruck den Kopf in den Nacken legte. Auch ich hielt noch einmal an und sah nach oben. Da war nichts als Dunkelheit.
»Was hast du?«, fragte ich.
Es dauerte noch einen Moment, bevor sie ihren Blick von der Schwärze am oberen Ende der Treppe losriss. Sie lächelte nervös. »Nichts«, behauptete sie. »Ich dachte ...«
Sie sprach nicht weiter, sondern hob nur die Schultern, aber sie machte auch keine Anstalten weiterzugehen, sondern fuhr sich nervös mit dem Handrücken über den Mund.
»Ich will hier raus«, murmelte sie. »Das Haus ... ist mir unheimlich.«
»Mir auch«, antwortete ich. Ich versuchte, mich zu einem aufmunternden Lächeln zu zwingen, aber ich konnte sogar selbst spüren, wie kläglich dieser Versuch scheiterte. »Wahrscheinlich war es nur irgendein harmloses Geräusch«, sagte ich. »Du weißt doch, wie diese alten Häuser sind. Da klappert und knistert und raschelt es ununterbrochen irgendwo.«
»Ja, wahrscheinlich«, antwortete Judith, in einem Ton, der das genaue Gegenteil behauptete. Sie schüttelte den Kopf. »Aber das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Vorhin, unten im Keller«, sagte sie stockend. Sie wich meinem Blick aus. Ihre Stimme wurde leiser. »Ich ... für einen Moment ...«
»Du hättest nichts dagegen gehabt, wenn Stefan dem Kerl den Hals umgedreht hätte«, sagte ich.
Überrascht sah sie mich an. »Woher ... ?«
»Mir ging es genauso«, gestand ich. »Du hast Recht, weißt du? Es ist dieses Haus. Es macht irgendetwas mit uns.« Judith sah nun vollends verblüfft aus, und ich ließ noch eine weitere Sekunde verstreichen, bevor ich mit einem — diesmal gelungenen — Lächeln fortfuhr: »Aber das hat nichts mit den Geistern der Vergangenheit zu tun.
Wir sind alle in einer Ausnahmesituation.
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