Nemesis 02 - Geisterstunde
private Unterlagen gestoßen, die tatsächlich bewiesen hätten, dass niemand anders als er dieses absurde Arbeitszimmer unterhalb des Klostergemäuers sein Eigen nannte. Es gab keine handfesten Fakten, die gegen ihn sprachen. Der Dolch, der Schreibtisch, die Zeitungsartikel: Das alles hätte ebenso gut von Thun gehören können – was irgendwie sogar viel besser gepasst hätte. Von Thun war alles Mögliche, nur eins ganz bestimmt nicht: der unbedarfte Anwaltsgehilfe, für den er sich ausgegeben hatte. Er war hier nicht nur aufgetaucht, um seinem verstorbenen ehemaligen Arbeitgeber einen letzten Dienst zu erweisen, sondern – er gehörte zu dieser gottverlassenen Ruine wie der Grünspan auf den Dachrinnen. Nach allem, was ich in den vergangenen Stunden hier erlebt hatte, hätte ich einen alten Mann wie von Thun, der sich zum Zeitvertreib ein Büro – nur durch einen Geheimgang zugänglich – in den Katakomben dieses Geisterschlosses zugelegt hätte, um dort Requisiten aus der Nachkriegszeit zu sammeln, für die Stabilität seines Charakters bewundert. Ich an seiner Stelle hätte jedenfalls mit Sicherheit schon erheblich größere Schäden davongetragen, denn ich war ja hier schon nach wenigen Stunden reif für die Klapse. Und auch wenn dieses Kellerloch nicht von Thuns Hobbyraum war, dann hätte ich an Carls Stelle zumindest behauptet, dass es so wäre, denn der alte Mann lag tot oder sterbend in unzugänglicher Tiefe und konnte sich nicht mehr verteidigen. Carl hätte es sich einfach machen können.
Aber er tat es nicht. Seine Körpersprache hätte ihn Lügen gestraft – das tat sie schon die ganze Zeit -, und ein weiterer Blick in Stefans Richtung machte mir klar, dass sich eine weitere Lüge unter Umständen ungünstig auf Carls körperliche Unversehrtheit auswirken könnte.
Stefan wirkte äußerlich ruhig, aber unter dieser Maske brodelte es, und ich war ganz bestimmt nicht der Einzige, der keinen besonderen Wert darauf legte, dabei zu sein, wenn dieses Riesenbaby explodierte. Ich revidierte eine ganze Reihe meiner Gedanken von soeben – ich an Carls Stelle hätte auch nichts anderes gesagt als die Wahrheit.
Ganz bestimmt. Stefan machte nicht den Eindruck, als wollte er das lebende Relikt des Woodstock-Festivals um einen Kopf kürzer machen, wenn es irgendetwas in seinen Ohren zweifelhaft Klingendes von sich gab, sondern eher so, als würde er Carl in transparente, mundgerechte Scheibchen schneiden. Ich war froh, dass er den Dolch nicht hielt.
»Und?« Stefan trat einen Schritt auf Carl zu. Da war sie wieder, diese Gewalt, die hier anscheinend zwischen den Sauerstoffmolekülen in der Luft hing und immerfort nur auf ein Opfer lauerte, das sie anfallen konnte, um es sich hörig zu machen. Ich las es in Stefans Augen und ich hatte Angst. Ich wusste, dass er sich in diesen Sekunden tief in seinem Inneren wünschte, Carl möge ihm doch einen Vorwand geben, damit er ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen könnte, und dass er sich nur mit Mühe beherrschte. Ich hatte Angst, dass es mich auch wieder erwischen könnte, Angst, dass Stefan die Kontrolle über sich verlieren könnte und dass ich es genießen würde.
»Jetzt lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, forderte er Zerberus auf. »Also?«
»Also was?«, fragte Carl patzig. Er musste entweder blind sein oder auf irgendeinem sonderbaren Selbstzerstörungstrip. Was zum Teufel hatten sich die Jungs zu seiner Zeit eigentlich reingepfiffen? Acetylensäure?
»Was soll das alles hier?«, fragte Stefan, nicht einmal wirklich lauter, aber doch in einem veränderten Tonfall, der selbst Carl klar zu machen schien, dass es allmählich ernst wurde.
»Das alles hier hat ... nichts mit euch zu tun«, behauptete er, in trotzigem Ton und mit herausfordernd vorgestülpter Unterlippe. Hätte er dazu auch noch die Kraft gehabt, Stefans Blick standzuhalten, hätte es möglicherweise sogar überzeugend gewirkt.
»Und womit hat es zu tun?«, fragte Stefan.
Was zum Teufel geht dich das an?, fragte Carls Blick.
Er war immerhin klug genug, diese Frage nicht laut auszusprechen, aber irgendwie konnte man sie dafür umso deutlicher in seinen Augen lesen. Stefan machte einen Schritt auf ihn zu. Die Bewegung wirkte ruhig, fast beiläufig, aber sie hatte zugleich — oder vielleicht auch gerade deshalb — etwas ungemein ... Bedrohliches. Carl schluckte hörbar, hob abwehrend die Hände und rettete sich schließlich in ein nervöses Lächeln.
»Wirklich,
Weitere Kostenlose Bücher