Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
gelbes Licht.
Ich konzentrierte mich auf den Widerhall der Schritte des Jungen, der aus irgendeinem Grunde vor mir durch den weitläufigen Keller flüchtete.
Meine Vernunft sagte mir, dass ich ihnen lauschen musste, um zu wissen, in welche Richtung ich mich an den verschiedenen Abzweigungen und Gangkreuzungen wenden sollte. Aber ich wusste, dass ich dazu meine Ohren nicht gebraucht hätte, um den richtigen Weg zu finden.
Wahrscheinlich hätte ich es nicht einmal geschafft, mich zu verirren, wenn ich es darauf angelegt hätte, denn meine Beine schienen nicht mir, sondern dem Kind zu gehorchen, dem wahrscheinlich die Comics in dem Internatszimmer gehörten und dessen Pfadfinderuniform nach wie vor unangenehm auf meiner Haut kratzte, obwohl ich sie überhaupt nicht trug. Falls ich jemals der Schizophrenie verfallen sollte, bekam ich in diesem Traum wohl schon einmal einen Vorgeschmack darauf, wie sie sich anfühlte.
Ich erreichte die Stelle, an der in der Wirklichkeit der Einsturz, den ich ausgelöst hatte, die Mauer niedergerissen und den Weg in den älteren Teil des Labyrinths freigegeben hatte. Die Wand war unbeschadet und frei von jeglicher Spur des Verfalls, aber es war eine schwere Stahltür in sie eingelassen, auf die jemand mit weißer Kreide und in kindlicher Schrift etwas auf den makellosen grauen Lack gekritzelt hatte.
»Du darfst mir nicht folgen, Frank! Wir dürfen uns nicht begegnen!«
Ich wusste, dass es der fremde Junge gewesen war, der diese Warnung für mich hinterlassen hatte – ich erkannte seine Schrift. Paradoxerweise empfand ich zeitgleich einen Augenblick lang Verblüffung über den Umstand, dass das Kind offenbar meinen Namen kannte, und wunderte mich über die widersprüchlichen Empfindungen, aber dann besann ich mich darauf, dass dies hier nur ein Traum war und dass Logik in einem solchen keinerlei Rolle spielte.
Ich musste die Tür nicht öffnen, um der Warnung zum Trotz auf die andere Seite zu gelangen und den Knaben weiter zu verfolgen: Von einem Lidschlag auf den anderen befand ich mich nicht mehr vor ihr, sondern wie nach einem abrupten Szenenwechsel in einem Film irgendwo in dem gewaltigen Tunnelkomplex und wie mir mein Gefühl sagte, nicht mehr allzu weit von dem unheimlichen Turm entfernt. Das allerdings änderte nichts daran, dass mein Herz raste, mein Atem schnell ging und meine Seiten schmerzten, als hätte ich die gesamte Strecke bis hierher im durchgehenden Sprint zurückgelegt.
Auch hier waren alle Gänge hell erleuchtet und wirkten gepflegt und sauber: Offensichtlich wurden sie regelmäßig genutzt und kleinlich gewartet. Vom Ende des Flures her, den ich schnellen Schrittes passierte, erklangen Stimmen.
Keine hohen Kinderstimmen, sondern die von mehreren erwachsenen Männern, die erregt und mit medizinischen Fachbegriffen nur so um sich werfend über irgendetwas diskutierten, was ich nicht verstand. War gerade mein Name gefallen? Hatte einer der Männer meinen Namen genannt?
Erschrocken hielt ich den Atem an. Ich kannte diese Stimmen, obwohl ich einen Eid darauf hätte ablegen können, dass ich sie nie zuvor gehört hatte. Sie weckten eine Erinnerung in mir, die beileibe keine gute war und von der ich in diesem Augenblick regelrecht dankbar war, dass ich sie nicht in Worte fassen, sondern nur als zusammenhanglose, wild durcheinander gewürfelte Bildfetzen vor meinem inneren Auge erkennen konnte. Sie war zu schrecklich, als dass ich es hätte ertragen können, hätte mein Hirn sie ausformuliert. Schließlich bogen zwei hoch gewachsene, schlanke Gestalten aus der nächsten Abzweigung in den Flur ein und kamen direkt auf mich zu.
Ich erstarrte mitten im Schritt und sah den beiden Männern aus schreckensweit geöffneten Augen und unfähig, mich zu bewegen, entgegen. Sie trugen blütenweiße Laborkittel mit kleinen, in Plastik gefassten Namensschildchen auf der Brust und waren älteren Jahrgangs. Ihr Haar war grau und weiß, und ihre Gesichter waren von unzähligen kleinen Fältchen durchzogen. Einer der beiden hatte tief hängende, dunkle Tränensäcke unter den Augen.
Gleichzeitig aber sah ich sie als schlanke, verhältnismäßig jung und gesund aussehende Herren in den Endvierzigern, deren Haar kurz geschoren, aber durchaus noch dicht und kräftig war – nur einer der beiden hatte eine verlängerte Stirn, was seiner Attraktivität aber keinen Abbruch tat. Die Haut auf ihren Gesichtern war frei von Falten und wirkte rosig und frisch, beide makellos blauen Augenpaare
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