Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
aufschlug.
Dieses Mal katapultierte die Ohnmacht mich nicht unverzüglich auf das oberste Plateau des unheimlichen, türenlosen Turmes, sondern in das stark nach Waschmittel und Wäschestärke riechende, schmale Bett des Internatszimmers, in dem ich zuletzt Arm in Arm mit Judith eingeschlummert war. Doch nun war ich allein.
Beide Betten in der kleinen, länglichen Kammer waren dermaßen ordentlich gemacht worden, dass sich mir der Eindruck aufdrängte, jemand hätte die Abstände zwischen den Kissen, Decken und dem Bettrahmen mit dem Geodreieck nachgemessen und immer wieder korrigiert, sodass sie nun wirkten wie aus einem Werbespot für Bügelwasser. Unter einem der Betten entdeckte ich ein Paar Kinderschuhe aus schwarzem Leder, die penibel geputzt und ebenfalls nahezu akribisch ordentlich hinter einem schlichten grauen Läufer aufgestellt waren, der das Zimmer nicht wirklich wohnlich zu gestalten vermochte. Ich trat an den vollkommen leeren Schreibtisch heran und überflog das Bücherregal darüber mit einem prüfenden Blick. Dort standen ausschließlich säuberlich eingeschlagene Schulbücher nach Fächern und Größe sortiert – jedenfalls glaubte ich das im ersten Moment. Im nächsten erspähte ich ein paar dünne Papierheftchen, die zwischen den dicken Wälzern hervorlugten, gut verteilt, als wollte ihr Besitzer vermeiden, dass man sie auf Anhieb entdeckte. Ich griff nach einer der kleinen Zeitschriften und identifizierte sie als ein zerlesenes Comic: eine Ausgabe von Micky Maus aus dem Jahr 1986. Die übrigen Hefte stammten aus demselben Jahr.
Plötzlich erklangen Schritte auf dem Flur, und ich ließ die Hefte erschrocken auf die Tischplatte fallen. Ich fühlte mich ...
Ertappt?
Der Traum war eigenartig. Ich sah mich selbst als erwachsenen Menschen und fühlte mich so, als sei ich nicht in einem Traum gelandet, sondern hätte eine Zeitreise unternommen, sodass ich noch immer derselbe war, als der ich im so genannten Schallraum, der Folterkammer im Turm, das Bewusstsein verloren hatte. Ich dachte, fühlte und handelte wie der erwachsene Mann Frank Gorresberg, der sich auf einer Erkundungstour in einer Vergangenheit bewegte, die nicht die seine war. Zeitgleich aber glaubte ich auch mit dem Bewohner dieses Zimmers, mit dem Kind, dem die Schuhe, das Bett und die Comics gehörten, deutlich mitzufühlen. Ich erwischte mich sogar bei dem Gedanken, den grauen Läufer ein kleines bisschen weiter nach links zu ziehen, weil ich in diesem Moment aus den Augenwinkeln feststellte, dass er einen winzigen Deut verrutscht war, der mir aus den Augen dessen, der ich eigentlich sein sollte, mit absoluter Sicherheit nicht aufgefallen wäre.
Ich gab mir einen Ruck, steuerte auf leisen Sohlen auf die offen stehende Tür zu, lugte vorsichtig wie ein Spion um die Ecke auf den Flur und lauschte, als ich niemanden entdeckte. Die Schritte näherten sich eilig dem unteren Treppenabsatz und hallten schließlich durch den Empfang.
Ganz offensichtlich war die Burg bewohnt, und ebenso offenbar war ich nicht allein im Haupthaus. Ich folgte den Schritten und redete mir ein, es aus Neugier zu tun, während ich tief in meinem Inneren ganz genau wusste, dass ich es in Wirklichkeit ganz einfach deshalb tat, weil ich das Gefühl hatte, es tun zu müssen. Nicht rennend, aber in zügiger Gangart eilte ich die nach Bohnerwachs riechende Treppe hinab. Meine Hände streiften über das frisch gewienerte Geländer. Während das alte Internat in der Realität kaum mehr war als eine staubige Ruine, in der die Milben euphorisch durch die Räume hüpften, war es jetzt ein Albtraum für jeden Putzfetischisten. Alles war so sauber, so steril, dass man den Eindruck gewann, dass der Schmutz vor den Mauern aus Furcht vor den scharf riechenden Desinfektionsmitteln, mit denen hier anscheinend regelmäßig gereinigt wurde, auf dem Absatz kehrt machte und schreiend davoneilte. Selbst die Mauern der alten Burg wirkten regelrecht wie abgekocht. Außerdem entdeckte ich nirgendwo auch nur den Ansatz eines Haarrisses in den weiß getünchten Decken, da waren keine noch so winzigen losen Stellen an den Enden der Tapetenbahnen, geschweige denn Spuren von Rost auf den Klinken oder abblätternder Lack auf den Türen. Sämtliche Glühbirnen, die das Zimmer, den Flur, das Treppenhaus und die Empfangshalle, die ich in dieser Sekunde erreichte, erleuchteten, waren intakt, und ich bemerkte, dass selbst das Licht hier drinnen so wirkte, als hätte man es gewaschen.
Am Ende
Weitere Kostenlose Bücher