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Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
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Köpfchen sahen mir flehend entgegen. Durch das Glas und die Konservierungsflüssigkeit hindurch glaubte ich einige von ihnen gedämpft wimmern zu hören. Aber ich brauchte unendlich mehr Zeit, die grauenhaften Behältnisse hinter mir zurückzulassen, als in Anbetracht der Geschwindigkeit, in der meine Füße sich bewegten, logisch gewesen wäre. Außerdem stimmte die Reihenfolge, in der sie aufgestellt waren, nicht mehr.
    Einige von ihnen schienen doppelt und dreifach vorhanden zu sein, die Regalböden schienen sich in mehrfache Länge zu ziehen, sodass ich bereits völlig außer Atem war, als ich nicht einmal die Hälfte der gesammelten Gliedmaßen, Organe, abgetrennten Köpfe und grausam entstellten Gesichter hinter mir zurückgelassen hatte.
    Das helle Licht der Unmengen von Glühbirnen, die in akkuraten Abständen mit Drahtgeflechten abgesichert unter der Decke angebracht worden waren und die Halle nahezu schattenlos ausleuchteten, enthüllte zusätzliche, meine Angst ins schier Grenzenlose steigernde Details der makaberen Ausstellung. Ich erkannte in Todesangst geplatzte Aderchen in den Augen der präparierten, mir mit Blicken folgenden Gesichter, doch in diesen stand nicht der Ausdruck des Flehens geschrieben, sondern gnadenlose Wut, die die Verzweiflung der letzten Sekunden ihres Lebens abgelöst hatte. Purer Hass und ... Vorwurf?
    Aber warum? Was ihnen widerfahren war, war unsagbar schrecklich und unmenschlich gewesen, aber wie konnten sie mir die Schuld an ihrem Leid geben? Ich hatte diese Menschen nicht einmal gekannt, geschweige denn ihnen irgendetwas zuleide getan! Sie durften mich nicht hassen, bloß weil ich ein Mensch war! Das war nicht gerecht!
    Frank!
    Ich vernahm eine gedämpfte, irgendwie blubbernde Stimme aus einem der Regale, aber ich sah nicht hin. Es war nur ein Traum, verdammt noch mal, ich konnte ihn beeinflussen, ich konnte ihn lenken, ich konnte dafür sorgen, dass ich nicht in die Richtung blickte, aus der diese Stimme zu mir hindurchgedrungen war, die mir auf seltsame Weise ebenso bekannt vorkam wie diese gesamte, nichts als Schrecken bergende Burg. Niemand, den ich gekannt hatte, war gevierteilt oder in noch mehr Einheiten zerlegt worden, keiner, den ich kannte, konnte in dieser verfluchten Anatomiesammlung des Seelenfriedens harren, der ihm vielleicht niemals vergönnt werden würde.
    Die Stimme hatte nicht boshaft geklungen, nicht so, als hätte sie mir drohen wollen, wie es all die Gesichter taten, die mich nach wie vor hasserfüllt anstarrten. Aber gerade das machte es für mich so schrecklich. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte mich beschimpft und aus allen Poren verwünscht, und sei es nur, weil ich eben ein menschliches Wesen wie jene war, die sie so grausam ihres Körpers beraubt hatten. Von mir aus hätten sie mich mit derselben Ungerechtigkeit behandeln können, mit der die fremden Gesichter mich betrachteten und die mindestens ebenso schmerzhaft für mich war wie die unsagbare Angst, die ich in diesen Sekunden durchlitt. Ich hätte es besser ertragen, als diesen vertrauten Ruf nach meinem Namen!
    Komm her, Frank, bitte, lass mich dich noch einmal sehen ...
    Ich rannte. Meine Lungen brannten wie Feuer, das Stechen in meinen Seiten ließ mich die Arme vor meinem Oberkörper überkreuzen und fest an meinen Leib drücken, und mein Atem ging schnell und laut wie nie zuvor, aber meine Lunge schien sich schier zu weigern, Sauerstoff aus der steril riechenden Luft zu gewinnen, so schnell auch immer ich atmete.
    Ich hatte die Keramikbecken vor den stählernen Türen auf der gegenüberliegenden Seite beinahe erreicht, als eine der gläsernen Platten, mit denen sie verschlossen waren, plötzlich wie von kraftvoller Geisterhand bewegt nach oben schnellte, kippte und mit einem ohrenbetäubenden, klirrenden Laut vor meinen Füßen in Millionen und Abermillionen winzig kleiner, im grellen Licht gefährlich aufblitzender Teilchen zersprang. Ich schrie entsetzt auf, stolperte zwei, drei Schritte zurück, ohne mich dabei von der makaberen Badewanne zu entfernen, rappelte mich schnell wieder auf und verkniff es mir in buchstäblich letzter Sekunde, mich zur Flucht zu wenden. Nichts auf der Welt konnte schlimmer sein als diese Stimme, die nach mir gerufen hatte, dachte ich, darüber hinaus wusste ich, dass ich die Treppe erreichen und zurücklegen musste, weil der Weg in den Turm hinauf für mich vorbestimmt war, warum auch immer, vielleicht, weil ich dem Jungen folgen musste.
    Natürlich

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