Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
irrte ich mich. Selbstverständlich konnte etwas schlimmer sein, und nein, ich musste dem Knaben nicht mehr folgen, denn ich hatte ihn bereits eingeholt. Er erhob sich gerade in diesem Augenblick aus der Keramikwanne, deren Verdeck in winzigen Splittern zu meinen Füßen auf dem Boden verstreut lag. Er war Teil des vermeintlich siamesischen Zwillings, dessen zwei Einheiten man auf so grauenhafte Weise miteinander vernäht hatte, um, wie Ellen gesagt hatte, einen organischen Blutaustausch zu ermöglichen.
Der Junge war nicht etwa vierzehn Jahre alt, wie er es gerade noch im Hof gewesen war – dieses Alter hatte er niemals erreicht. Höchstens acht oder neun Jahre hatte man ihn am Leben gelassen, ehe dieses absurde, durch und durch perverse Experiment ihn und seinen Bruder dahingerafft hatte. Das Haar hing den beiden nass und strähnig in die blutleeren Gesichter. Sie waren nackt und wirkten unglaublich mager, und die stümperhaft vernähten Wunden waren wulstig und ließen sich überdeutlich erkennen.
Verkrustetes Blut haftete an ihren Körpern, und die dunkelblauen Fäden waren deutlich in dem nicht gänzlich abgeheilten Hautgewebe zu erkennen. Ihre Gesichter wirkten abgehärmt, und die Augen, mit denen sie mich in krampfhaft verrenkter Haltung ihrer dürren Hälse gleichzeitig ansahen, waren von unnatürlich hellem Blau, als seien sie blind. Aber sie konnten mich ganz eindeutig sehen.
»Geh nicht dort hinauf.« Der Junge, dem ich hierher gefolgt war, hob in einer warnenden Geste den Arm und versuchte einen Augenblick vergeblich, den Kopf zu schütteln, stellte den Versuch aber schnell ein, als seine rechte Schläfe mit der linken seines Bruders zusammenstieß. »Der Schmerzensmann wartet auf dich.«
Noch während der Junge sprach, schwang lautlos die Tür zur Turmtreppe auf. Eine helle und freundliche, aber auch leicht tadelnd klingende Kinderstimme schallte durch das Treppenhaus zu mir herunter in die Forschungssammlung.
»Komm herauf, Frank«, flötete sie fröhlich. »Du bist wieder einmal der Letzte!«
Ich schrie auf – laut und gellend, wie ich noch nie zuvor geschrien hatte. Meine Stimme schnellte über das mir vertraute Volumen hinaus, hallte unendlich laut und eindringlich von den Wänden wider, flüchtete durch die Gänge aus dem grauenhaften Labyrinth zurück in die Wirklichkeit und riss mich aus der Ohnmacht, in die der Schmerz und der Klang der Musik aus den gewaltigen Lautsprechern mich getrieben hatte. Hinter meiner Stirn tobte ein Schmerz, der so peinigend war, dass ich mir im ersten Augenblick fast wünschte, das Bewusstsein augenblicklich wieder zu verlieren, doch die Erinnerungsfetzen, die mich aus meinem Albtraum in die Wirklichkeit begleitet hatten, reichten aus, diesen Wunsch schneller wieder schwinden zu lassen als er aufgekeimt war. Ich beschloss, nie wieder zu schlafen, und sah mit vor Qual getrübtem Blick an mir hinab.
In zusammengesackter Haltung kauerte ich auf dem disproportionalen Holzstuhl, in dessen Lehne ein Kind (ich?!) mit den Fingernägeln den ersten Buchstaben meines Vornamens geritzt hatte. Mein Oberkörper war nackt, bleich und schweißnass. Ich zitterte vor Angst, Leid und Kälte.
Kleine Gummielektroden hafteten mit einem glitschigen, kühlen Gel auf der Haut meiner Brust, dünne Kabel führten von ihnen aus in die kleine Kiste zu meiner Linken, andere aus der Kiste zu meinem Kopf hinauf. Mit zitternden Fingern tastete ich nach meiner Stirn. Auch dort hafteten mehrere der beängstigenden Elektroden. Jemand hatte mein Haar an manchen Stellen abrasiert, um weitere Elektroden mit leitfähigem Gel auf meiner Kopfhaut zu fixieren.
Mein Herzschlag setzte für einige Schläge aus. Was zum Teufel war mit mir geschehen? Was hatte man mit mir gemacht?! Ich fühlte mich ... missbraucht. Was auch immer mit mir geschehen war, es war ohne meine Einwilligung, ohne mein Bewusstsein passiert. Ich fühlte mich ausgeliefert und auf widerlichste Art hintergangen, bloßgestellt und ausgenutzt für etwas, von dem ich nicht einmal eine Ahnung hatte, was es war, mit dem ich aber nicht einverstanden war – ganz und gar nicht einverstanden.
Judith und Ellen saßen mir gegenüber auf ihren Plätzen.
Auch ihre Oberkörper waren entblößt. Ellen trug nur noch ihren Büstenhalter und ihren dunkelblauen Minirock, während Judith, die anscheinend prinzipiell auf unbequeme Kleidungsstücke und dergleichen verzichtete und nichts unter ihrem geblümten Sommerkleid getragen hatte als einen mit
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