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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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zumindest aber ähnelte er dem Mann in der SS-Uniform, den Maria uns in ihrem dicken Wälzer gezeigt hatte. Der Mann überreichte dem Kind Frank eine Trophäe.
    Es war der Kopf des Rehkitzes, das ich aufgeschreckt hatte und das geradewegs in das Schneidewerk des Mähdreschers geflüchtet war. Aber der Kopf des Tieres war nicht ausgestopft und auf einer hölzernen Scheibe fixiert worden, wie man sie nur zu oft in Jagdlokalen entdeckt, sondern in einem gläsernen Zylinder in einer klaren Flüssigkeit für die Ewigkeit präpariert worden – in einem Glasbehälter wie jenen, in denen die Gehirne meiner, unserer Eltern und Großeltern in der menschenverachtenden Forschungssammlung unter der Burg aufbewahrt wurden.
    Diese Videos mussten eine Fälschung sein, unabhängig davon, was mein Unterbewusstsein meinem Bewusstsein in einem unverständlichen Mischmasch aus Russisch und Chinesisch zukreischte! Jemand musste mit äußerstem Geschick daran herummanipuliert haben, alles andere konnte, durfte einfach nicht wahr sein! Diese Bilder zu betrachten ging für mich als erwachsenen Menschen schon deutlich über den Rand des Erträglichen hinaus. Und wenn dieser Film tatsächlich als Beweis dafür zu werten war, dass ich als Kind schon einmal auf Crailsfelden gewesen war, wollte ich mir nicht vorstellen, was man mir damals angetan hatte, dass mein traumatisiertes Hirn jegliche Erinnerung an das Erlebte in einen unerreichbaren Winkel meines Bewusstseins geprügelt hatte!
    Ich machte die Augen zu und beschloss zu sterben. Eher würde ich auf den Tod warten, als dass ich mir auch nur noch einen einzigen weiteren dieser grauenhaften Filme ansah. Ich würde mich verweigern bis zum bitteren Ende!
    Nichts konnte grausamer sein als die Wirklichkeit, in der ich gefangen war! Die Tür wurde geöffnet, und ich spürte am Luftzug, wie jemand auf dem Hocker neben meinem Bett Platz nahm. Warmer Atem streifte meine Haut; jemand beobachtete mich aus nächster Nähe. Aber ich sah nicht hin. Ich wollte überhaupt nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen, nie wieder!
    »Herr Gorresberg«, vernahm ich eine ruhige Stimme dicht an meinem Ohr. Ich kannte sie, konnte sie aber nicht gleich zuordnen. Es war nicht wichtig. Ich wartete ohnehin nur noch auf den Tod. »Ich kann an den Kurven Ihrer Hirnströme ablesen, dass Sie nicht mehr schlafen«, sagte der Mann. »Reden Sie mit mir.«
    Ich schwieg, und ich sah auch nicht hin. Einige Augenblicke lang versuchte ich, mich durch bloßes Luftanhalten selbst zu ersticken, musste aber schnell einsehen, dass ich nicht über die nötige Ausdauer verfügte, auch nur eine Ohnmacht auf diese Weise zu provozieren.
    »Finden Sie nicht, dass Ihr Verhalten unangemessen kindisch ist?«, fragte die seltsam vertraut klingende Stimme, nachdem einige Augenblicke des Schweigens verstrichen waren. »Es entspricht nicht Ihrem Charakter.«
    »Sie kennen meinen Charakter also besser als ich.« Die Behauptung des Mannes hatte mich so verärgert, dass ich vor lauter Wut meine Sturheit und meinen Entschluss zu sterben vergessen und darauf geantwortet hatte.
    »Selbstverständlich.« Ein leises Schmatzen erklang. Ich fühlte winzige Speicheltröpfchen auf Gesicht und Hals.
    Wer auch immer neben mir saß, musste ziemlich alt sein, die dritten Zähne tragen oder beides. »Mit Abstand sieht man die Dinge immer etwas deutlicher, als wenn man gänzlich in sie verstrickt ist«, philosophierte der ungebetene Gast an meinem Krankenbett.
    »Was wollen Sie von mir?«, fragte ich gereizt und mit noch immer und nun erst recht stur zusammengekniffenen Lidern.
    »Ich bin hier, um Ihren letzten Willen niederzuschreiben«, antwortete der Mann an meiner Seite mit ruhiger Stimme.
    Ich vergaß den letzten Rest von Sturheit und schlug die Augen auf. Jemand hatte die Neonröhre unter der Decke angeknipst, so dass ich im ersten Moment nichts anderes sah als bunte Punkte und Spiralen, die einen irrwitzigen Tanz vor meinen geblendeten Augen aufführten, aber dann bildete sich langsam ein grauer Schemen aus dem Chaos von Formen und grellen Farben heraus. Auf dem Stuhl neben meiner Liege saß zusammengesackt eine hagere, gebeugte Gestalt: Friedrich von Thun, der greise Advokat, der uns auf die Burg eingeladen hatte. Er wirkte ein wenig verstaubt. Ein harmloser alter Mann, dessen betuliches Wesen und offene Art zu lächeln ihn wie einen freundlichen Großvater erscheinen ließen. Irgendwie passte er hervorragend auf eine hölzerne Parkbank an

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