Nemesis 06 - Morgengrauen
»Neben dem Müttergenesungsheim gab es eine kleine Schule für Hochbegabte. Das Müttergenesungsheim war nur Tarnung – Professor Sänger hat es nur einrichten lassen, um später auch eine Entbindungsstation und eine Säuglingsstation auf der Burg zu haben. Aber dazu kam es dann nicht mehr ...«
»Was hat man mit den Kindern hier gemacht?«, wiederholte ich. Ich spürte, dass ich der Antwort auf alle Fragen nah war. Vielleicht näher, als mir tatsächlich lieb sein konnte. Aber was machte das schon aus. Ich würde ohnehin sterben, und wenn ich schon hier verrecken würde, dann wollte ich wenigstens die Wahrheit mit in den Tod nehmen.
Von Thun blickte auf und lächelte kalt. »Wussten Sie, dass schon Ihre Großeltern als Kinder hier waren?«, entgegnete er anstelle einer deutlichen Antwort. »Adolf und Elisabeth Gorresberg. Ich erinnere mich noch genau an die beiden. Krause hat sie gebracht. Wir haben uns zusammen die neuen Namen ausgedacht. Ihre Großmutter haben wir zu einer geborenen Stürmer gemacht.« Er lachte hässlich.
»Die Idee kam uns, weil Richard eine Ausgabe des Stürmer auf seinem Schreibtisch liegen hatte. Ich kann mich noch daran erinnern, als sei es gestern gewesen. Seltsam, nicht wahr? Man erinnert sich in aller Deutlichkeit an etwas, was vor sechzig Jahren passiert ist, aber an das, was gestern war, erinnere ich mich kaum noch.«
Ich starrte den Alten einfach nur fassungslos an. Ich konnte einfach nicht glauben, wie von Thun in der Lage sein konnte, in solch einem Plauderton von seinen menschenverachtenden Verbrechen zu erzählen! Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihm eigenhändig das Genick gebrochen, wenn nicht für das, was er getan hatte, dann zumindest für die perverse Abgebrühtheit, mit der er darüber sprach. Aber ich fürchtete, dass der Advokat aufhören würde, von Crailsfelden zu erzählen, wenn ich ihn anfeindete. Ich musste alles wissen. Ich hatte schon viel erfahren, zu viel für meine sensible Seele, aber nicht das, was ich hatte wissen wollen. Was zum Teufel war meine Rolle in dieser kranken Geschichte?
»Was war mit diesem Herrn Messing«, fragte ich deshalb nur.
Von Thun fuhr sich mit einer flüchtigen Geste über die runzlige Stirn. Ich erwartete fast, dass seine wie Pergamentpapier glänzende uralte Haut unter dieser Bewegung knistern würde, aber sie tat es nicht.
»Messing, ja, ja ...«, antwortete der Alte kopfschüttelnd.
»Entschuldigen Sie – ich glaube, ich habe in meinen Ausführungen etwas den Faden verloren. Der Jude Messing war der Dreh- und Angelpunkt im Projekt Prometheus.
Weil es ihn gab, konnte Professor Sänger sicher sein, dass er alle Unterstützung von Himmler und vom Führer selbst bekommen würde. Messing war das, was man im Volks- und einen Wahrsager nennt. Gleich zu Beginn des Krieges hat er vorausgesagt, dass die deutsche Wehrmacht im Osten eine schreckliche Niederlage erleiden würde. Von einem überzeugten Kommunisten kann man nichts anderes erwarten ... Ärgerlich war allerdings, dass diese Geschichte in mehreren polnischen Zeitungen abgedruckt wurde. Messing wurde zur Symbolfigur der Hoffnung, nachdem wir Polen besetzt hatten. Deshalb hat man ein Kopfgeld von zweihunderttausend Reichsmark auf ihn ausgesetzt. Damals war das eine ungeheure Summe! Dennoch hat es überraschend lange gedauert, bis die Gestapo ihn aufspüren konnte und in ihr Hauptquartier brachte.«
Wieder blickte von Thun einen Moment lang schweigend an mir vorbei und runzelte die Stirn, als müsste er überlegen, wie er seine folgenden Schilderungen formulieren könnte.
»Von dort aus ist er dann unter ungeklärten Umständen entkommen«, fuhr er schließlich fort. »Er scheint einfach so herausspaziert zu sein. Gestapo, SD und Polizei haben vergeblich versucht, ihn noch einmal zu fassen zu bekommen. Ich glaube, es war einer der Spitzel des Oberst von Gehlen, des Chefs der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres, der mit neuen Erkenntnissen über Messing kam.« Von Thun stutzte kurz. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht war es auch ein Spitzel des SD, der in Diensten von Admiral Canaris stand«, seufzte er schulterzuckend. Ich biss mir auf die Zunge, um den Advokaten nicht darauf hinzuweisen, dass mich solcherlei Details in keiner Weise interessierten. »Jedenfalls hat das Oberkommando im Sommer 1942 Nachricht davon erhalten, dass es Wolf Gregorewitsch Messing geschafft hatte, sich nach Russland
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