Nemesis 06 - Morgengrauen
durchzuschlagen. Dort hat er sich wieder als Hellseher betätigt. Der Mann hatte nichts dazugelernt. Er hätte wissen sollen, dass man sich in Diktaturen besser nicht als Hellseher ausgibt, selbst dann nicht, wenn man ein linientreuer Kommunist ist.«
Von Thun stieß ein trockenes Lachen aus, das sich fast wie ein Husten anhörte. »Na ja, ein Oberst des NKWD – so hieß damals der Geheimdienst, der später zum KGB
wurde – hat Messing verhaftet«, fuhr er fort. »Man erzählt sich, dass der Oberst damals gesagt habe, Hellseher seien in der Sowjetunion unerwünscht, weil es sie gar nicht gäbe. Messings Ruf war damals schon so bedeutend, dass sich Stalin in die Angelegenheit einschaltete und befahl, man solle Messings Talent auf die Probe stellen. Und über das, was dann passierte, haben zwei Offiziere des NKWD unabhängig voneinander Zeugnis abgelegt. Messing ging in eine Bank und überreichte dem Hauptkassierer ein Blatt, das er aus einem Schulheft herausgerissen hatte, woraufhin der Kassierer ihm ohne weitere Prüfung hunderttausend Rubel auszahlte. Der Mann muss unter Hypnose gestanden haben, oder wie auch immer man Messings besondere Begabung nennen mag. Als man ihm darlegte, dass er einen Schmierzettel als Scheck angenommen hatte, bekam der Gute eine Herzattacke.«
Von Thun grinste ein schelmisches Grinsen, als erzählte er von einem albernen Knabenstreich aus seiner Kindheit.
Dann schüttelte er den Kopf. »Völlig überzeugt war Stalin, als Messing wenig später ungehindert in seine schwer gesicherte Datscha eindringen konnte und alle Wachtposten der Meinung waren, an ihnen sei Lawrenti Berija vorbeigegangen, der Chef des NKWD und seines Zeichens einer von Stalins engsten Vertrauten«, plauderte der Greis weiter. »Dazu ist anzumerken, dass Messing nicht die geringste Ähnlichkeit mit Berija hatte. Danach durfte Messing seine paranormalen Fähigkeiten für den Geheimdienst einsetzen. Was genau er dort getan hat, ist allerdings bis heute ungeklärt. Jedenfalls hat die Geschichte von Messing damals einige Unruhe in der Umgebung des Führers ausgelöst. Ein solcher Mann wäre der perfekte Attentäter gewesen. Von dem Tag an, als dieser Bericht im Führerhauptquartier und beim Reichsführer SS vorlag, hatten die Forscher im Projekt Prometheus völlig freie Hand. Nur ist es leider einfacher, irgendwelche Wunderwaffen zu bauen, als Kinder mit paranormalen Fähigkeiten aufzuspüren.
Und Kinder mussten es sein, denn sie sollten völlig im Geiste des Nationalsozialismus erzogen werden, um später wirklich zuverlässige Instrumente zu sein. Des Weiteren war es Himmlers Wunsch, dass alle diese Kinder den strengsten Maßstäben eines arischen Menschentyps entsprechen sollten. Sie sollten die Urzelle einer neuen Rasse von Supermenschen werden, so wünschte es sich der Reichsführer.«
Von Thun maß mich mit einem Blick, als schätzte er ein Stück Vieh ein – zumindest kam es mir in diesem Augenblick so vor. Ich sah weg.
»Wenn ich Sie mir so ansehe, Herr Gorresberg, dann ist das Projekt Prometheus zumindest diesem Anspruch gerecht geworden«, behauptete er schließlich. »Auch wenn es nicht geglückt ist, den tödlichen Makel, der allen Begabten anhaftete, auszumerzen.«
»Was für einen Makel?« Ich ahnte die Antwort nicht nur, ich wusste sie eigentlich längst. Er hatte es mir schon einmal gesagt, und ich hatte es mit eigenen Augen gesehen, in der Forschungssammlung unter der Burg. Hässliche dunkelgraue Geschwüre, die sich in komplizierte Hirnwindungen fraßen. Ich spürte den Alien hinter meiner Stirn. Wie weit reichten seine Tentakel?
»Alle Begabten haben einen Tumor im Bereich des Großhirnstirnlappens ausgebildet«, bestätigte von Thun meine Erwartung. »Diese Tumore werden mit zunehmendem Alter der Probanden immer aggressiver.« Der Greis zuckte mit den Schultern. »In all den Jahren haben wir nicht einen Begabten gehabt, der diesen Makel nicht aufwies. Und die Generationenfolgen sind so langsam ... Bis jetzt. Ich werde das Ende der Forschungen nicht miterleben, aber die nächste Generation wird die Saat für eine neue Spezies sein. Das Projekt Prometheus wird abgeschlossen werden!«
Der Advokat erhob sich und verneigte sich knapp vor mir. »Ich werde Sie nun verlassen, Herr Gorresberg. Ich danke Ihnen, dass Sie mit mir zusammengearbeitet haben.
Sie können sicher sein, dass Ihr Erbe in Ihrem Sinne abgewickelt wird. Im Übrigen überschreibt Professor Sänger etwaigen Hinterbliebenen stets auch
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