Nemesis 06 - Morgengrauen
leise. Mein Blick wanderte an mir selbst hinab. Meine linke Hand lang auf meiner Brust und zitterte, als litte ich seit neuestem unter Parkinson. Ich wollte sie anheben und nach meinem Kopf, meinem Gesicht, meinem Hals tasten, aber sie gehorchte meinen Befehlen einfach nicht mehr. Eher fasziniert als wirklich erschrocken beobachtete ich das Phänomen. Was war das? Ein Muskelkrampf? Nein. Ich fühlte nichts mehr ...
»Natürlich nicht. Schließlich träume ich das alles nur«, murmelte ich halblaut, ohne dass meine Worte die Unruhe, die die Faszination der ersten Sekunden nun ablösten, vertreiben oder auch nur eindämmen konnten. Und da war noch mehr, was sich verändert hatte...
Das dünne Engelhemdchen, in das man mich nach der OP zu meiner Beschämung gesteckt hatte, war verschwunden, so dass ich nackt war bis auf die Thrombosestrümpfe, die bis zu meinen Oberschenkeln reichten. Ich hätte nie für möglich gehalten, noch bescheuerter aussehen zu können als in einem OP-Hemdchen mit Strümpfen, die wahrscheinlich selbst Marilyn Manson sich zu tragen geweigert hätte. Aber es ging schlimmer. Man musste nur das Hemdchen weglassen.
Schlimmer als die Scham übrigens war eine sehr beklemmende Vorstellung, die sich in diesem Augenblick ohne Vorwarnung und sehr deutlich in meinem Bewusstsein präsent zeigte, nämlich die, dass ich vielleicht teilweise gelähmt war. Wenn mir meine linke Hand nicht gehorchte, dann war es durchaus möglich, dass ich auch die Kontrolle über den Rest meines Körpers verloren hatte.
Ich fixierte die Zehen, die in den langen weißen Synthetikstrümpfen steckten, und konzentrierte mich mit aller Kraft darauf, sie zu krümmen. Eine halbe Tonne von Steinen purzelte mir vom Herzen, als ich feststellte, dass zumindest sie noch an der Befehlskette meiner Nervenstränge hingen. Ich musste mich zusammenreißen! Das mit meiner Hand konnte nur ein Krampf sein. Ich war doch früher nicht so ein Paniker gewesen!
Oder? Wer oder was war ich schon früher gewesen? Und welcher Teufel ritt mich eigentlich, das, was vorgestern gewesen war, als früher zu bezeichnen? Egal, ermahnte ich mich im Stillen, hier und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, über meine Persönlichkeit zu philosophieren.
Viel eher sollte ich mir Gedanken darüber machen, was mit meinem Hemd passiert war – und warum meine Brust gerötet war. Unter meinen Achseln hindurch verlief ein breiter elastischer Verband, und ...
Sämtliche Elektroden, die man mir angeheftet hatte, waren entfernt worden! Lediglich die Infusionsnadeln mit den Schläuchen waren geblieben. Sogar die Nadel, die in meinem rechten Arm gesteckt hatte, war herausgerissen; dort, wo sie auf dem Betttuch lag, breitete sich ein grauer Fleck aus, wo die Kochsalzlösung – oder was auch immer man in mich hatte hineinlaufen lassen – das Laken durchnässte. Die weißen Pflaster waren blutverkrustet. Wenn das kein Traum war, dann hatte ich eine Chance zur Flucht! Die Geräte konnten nicht mehr messen, wenn ich mich bewegte!
Trotzdem blickte ich ängstlich zu den Kurven auf den Messmonitoren, während ich mich zitternd in eine sitzende Position aufrichtete. Aber keines der Geräte begann zu piepsen. Alles schien in Ordnung zu sein.
Was schließlich sollten sie auch messen, wenn man die Elektroden entfernt hatte, meldete sich eine zynische Stimme aus meinem Unterbewusstsein. Ich wollte mich gänzlich aufrichten, erstarrte aber mitten in der Bewegung.
Vor meinem Bett lagen zwei Leichen. Ein Arzt. Auf seinen schlaffen Wangen prangten feuerrote Brandmale, seine Koteletten waren halb verbrannt. Der Geruch, erkannte ich. Dieser Gestank der Silvestererinnerung – das war sein Haar gewesen. Neben dem Mediziner in dem weißen Kittel lag ein Defibrillator, das Elektroschockgerät, das man benutzte, um Wiederbelebungsversuche bei Herzversagen durchzuführen. Ich war lange genug einsam gewesen, um mich zumindest mit den Hauptutensilien diverser Krankenhausserien in den Privatsendern hervorragend auszukennen. Offensichtlich hatte man den Arzt mit Elektroschocks getötet.
Direkt zu meinen Füßen, unmittelbar vor dem Stuhl, auf dem zuletzt von Thun gesessen hatte, lag eine junge rothaarige Frau, die ich in der ersten Sekunde voller Entsetzen für Ellen hielt. Erleichtert atmete ich auf, als ich erkannte, dass sie es nicht war, sondern ein wesentlich jüngeres Mädchen, vermutlich eine Krankenschwester, wenn nicht gar eine Schwesternschülerin. Anders als die des Arztes wirkten
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