Nemesis 06 - Morgengrauen
dass man langsam zu dem wurde, was man am Beginn des Weges einmal bekämpft hatte?
Eine Welt ohne Krieg und Ungerechtigkeit ... Das wäre wahrlich ein Ziel, für das es sich zu sterben lohnte. Aber sollten Männer wie dieser Professor Sänger in Zukunft heimlich über Recht und Unrecht entscheiden dürfen? Ich dachte ein weiteres Mal innerhalb kürzester Zeit an das Horrorkabinett unter der Burg zurück; diese Bilder würden mich wahrscheinlich bis zu meinem Tod in immer kürzer werdenden Abständen quälen. Die Ausstellung konservierter Verbrechen. Die Sammlung der grausamsten Versuche, die wahrscheinlich je an menschlichen Wesen unternommen worden waren. Wer so etwas rechtfertigte, der durfte um keinen Preis über das Schicksal dieser Welt entscheiden. Wenn wenigstens ein Teil dessen, was Sänger und von Thun erzählt hatten, stimmte, dann hatte ich, Frank Gorresberg, den Professor schon einmal aufgehalten.
Unglücklicherweise konnte ich mich nicht daran erinnern, wie.
»Was ist damals mit Miriam geschehen?«, fragte ich.
Der Professor faltete seine Hände über der Brust. Es waren Hände aus faltiger rosafarbener Haut mit hässlichen braunen Altersflecken und dicken, schwulstigen Adern, die sich überdeutlich darunter abzeichneten, als lägen sie tatsächlich auf den Handrücken und seien nur matt lasiert worden, um sie zu kaschieren. Es schien, als habe das Alter alles Fleisch von seinen langen Fingern geschmolzen. In der Miene des Greises waren Zweifel zu erkennen.
Insgeheim rechnete ich damit, dass der Alte meine Frage überhaupt nicht beantworten würde, doch nach einer kleinen Weile räusperte Sänger sich umständlich.
»Die Geschichte von Miriam ... Du hast damit meine Arbeit fast vernichtet, auch wenn mir klar ist, dass das niemals in deiner Absicht gelegen hätte«, begann der Professor mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen. »Miriam war ein bildschönes junges Mädchen. Sie war noch keine vierzehn, aber sie sah schon ein wenig älter aus. Ihr Vater war ein wichtiger Botschafter in Bonn.«
Er zuckte hilflos mit den Schultern, wobei ich nicht sicher war, was diese Geste zu bedeuten hatte. Hatte sie etwas damit zu tun, dass er es nicht hatte umgehen können, ein Mädchen südländischen Typs in seine Schule aufzunehmen, oder eher mit dem, was er weiterhin erzählte? Wahrscheinlich mit beidem.
»Das Unglück geschah am ersten Tag der großen Ferien«, sagte Sänger nach einer unbehaglichen Pause, in der er wohl nach den richtigen Worten gesucht hatte. »Ein Samstag. Ich erinnere mich daran, als sei es erst gestern gewesen. Am Morgen hatte man alle Schülerinnen und Schüler, die nicht von ihren Eltern abgeholt worden waren, zum Bahnhof gebracht. Auch die meisten Lehrer hatten bereits die Schule verlassen – außer jenen wenigen, die in die Geheimnisse des Projekts Prometheus eingeweiht waren, versteht sich. Für den späten Nachmittag war eine Versuchsreihe im Burgfried angesetzt. Es sollten Experimente mit Schallwellen gemacht werden. Was zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, war, dass du, Frank, dich mit Miriam verabredet hattest. Sie ist einfach an der ersten Bahnstation aus ihrem Zug ausgestiegen und dann wieder zurückgefahren. Von Bad Münstereifel aus hat sie dann einen Verbindungsbus nach Crailsfelden genommen.
Dort hast du sie auf dem Dorfplatz erwartet. Den Termin für das Experiment hast du einfach in den Wind geschlagen. Euer Plan war, dass sich Miriam für ein paar Tage heimlich erneut in ihrem Zimmer im Mädchenflügel einquartiert. Ihren Eltern hatte sie einen Brief geschrieben, dass sie für ein paar Tage zu einer Freundin fahren würde, so dass sie zu Hause niemand vermisste. Am frühen Abend dann seid ihr zur Burg hinaufgeschlichen. Deine fünf Kameraden, Stefan, Ed, Judith, Ellen und Maria, hatten den ganzen Nachmittag an den Experimenten teilgenommen. Ihre telepathischen Fähigkeiten waren stark sensibilisiert. Sie hatten gespürt, dass du zur Burg zurückgekommen warst, und sie waren wütend auf dich, weil du sie verraten hattest. So sahen sie es jedenfalls. Maria war ihre Wortführerin. Ich weiß nicht genau, was damals in sie gefahren war. Es muss eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen sein. Sie waren alle in aggressiver Grundstimmung, und offenbar ist Miriam sehr empfänglich für ihre telepathischen Manipulationen gewesen. Sie haben die Kontrolle über Miriam übernommen und sie hinunter in die geheimen Forschungsbereiche gelockt. Da dieser Bereich der Burg
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