Nemesis 06 - Morgengrauen
konnte nicht anders«, versuchte Miriam ihn zu beschwichtigen. »Man hat ihn uns gestohlen. Da war ein Arzt, nicht wahr? So ein Seelendoktor. Er hat eine hohe Mauer um die Erinnerung an dich gezogen. Komm, reich Frank die Hand. Ihr müsst euch wieder vertragen.«
Der Knabe schnitt eine Grimasse. »Der kann lange darauf warten, dass ich etwas für ihn tue. Der ist einfach davongelaufen, dieser Feigling. Er hat doch zugelassen, dass dieser Seelenklempner die Mauer errichten konnte.«
Miriam zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Manchmal ist er so störrisch«, sagte sie. »Fast wie ein Kind ...«
»Ich bin kein Kind!«, maulte der Teenager.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war im Schatten des Torbogens zurückgeblieben – das alles geschah nur in meiner Vorstellung, und sei sie noch so lebendig. Das hier war nicht real. Außerdem war ich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob ich diesen Teil meiner Erinnerungen wirklich zurückhaben wollte. Dieser verstockte Zwölfjährige, dem ich mich auf einmal gegenübersah, war ein grausamer Killer! Er hatte die Morde begangen, weil er niemals verwunden hatte, was damals geschehen war. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte er auf seine Rache gewartet, ohne zu altern.
»Wenn du ihn nicht akzeptierst, dann wirst du ihn niemals beherrschen können«, ermahnte mich Miriam. Sie flüsterte, so als hätte sie Angst, dass der Junge, der auch ich war, verstehen könnte, was sie sagte.
»Das ist absurd!«, rief ich laut aus. »Ich ... ich werde verrückt!«
Meine Worte vertrieben den Burghof mit dem Knaben.
Mein inneres Auge hatte sich wieder geschlossen, und einmal mehr lag ich auf der Liege in dem kleinen Raum. Ich war erlöst von den Wahnvorstellungen, in die ich mich nach Kräften hineinmanövriert hatte, und fand blinzelnd in die Wirklichkeit zurück.
Blinzelnd?!
»Frank! Komm zu dir!«, hörte ich eine Stimme rufen.
Ich riss die Augen auf. Neben meiner Bahre stand Ellen.
»Schnell«, drängte sie. »Wir müssen hier fort. Ich helfe dir, dich aufzurichten.«
Was war denn nun los? War ich etwa schon tot? Erschrocken blickte ich zu dem Fernseher auf, in dem ich in dieser Sekunde erneut in die Küche schlich. Noch blieb mir also ein wenig Zeit.
»Frank!«, zischte die Stimme. »Verdammt, hilf mir doch. Ich kann dich nicht aufrichten. Ich habe das Gefühl, mir reißt der Bauch auf, wenn ich versuche, dich zu heben.«
Verwundert drehte ich den Kopf. Die Lidklemmen waren entfernt worden, und auch die breiten Lederriemen waren gelöst. Auf einem kleinen Rolltisch neben meiner Bahre lag die Todesspritze. Ellen stand an meiner Seite und stützte sich mit einer Hand an der Bahre ab, während sie die andere auf ihren Unterbauch presste. Ihre Haut war kreidebleich, und dicke Schweißperlen blitzten auf ihrer Stirn. Sie schien unter starken Schmerzen zu leiden.
»Was machst du hier?«, fragte ich matt. Ich fühlte mich unglaublich schwach – immerhin hatte man mein Blut in den vergangenen Stunden regelrecht verwässert mit Betäubungs- und Beruhigungsmitteln.
»Dich hier herausholen, du Idiot!«, schnappte Ellen und zog eine Grimasse. Anscheinend verursachte schon lauteres Sprechen zusätzliche Schmerzen in ihrem Bauch.
Ich musterte sie misstrauisch. Ob ich ihr wohl trauen konnte? Sicher – sie hatte mich von den ledernen Fesseln befreit, und auch von den Nadeln und Elektroden, wie ich in diesem Augenblick dankbar feststellte. Aber auch das konnte Teil eines neuen, verrückten Planes von Professor Sänger sein. Vielleicht hatte er mich überhaupt nicht töten wollen, sondern nur ein weiteres Experiment an mir durchgeführt, in dem er feststellen wollte, wie ich mich in Todesangst verhielt? Dieser Nazi-Professor herrschte in dieser Klinik wie der Kaiser über das Kolosseum in Rom, und Ellen war möglicherweise nur ein neuer Gladiator, den er in die Arena gegen ein unberechenbares Ungeheuer schickte, um sich an dem Zweikampf zu ergötzen.
»Warum holst du mich?«, fragte ich misstrauisch und spähte zu dem Belüftungsschacht hinüber, von dem ich mittlerweile wusste, dass sich hinter dem Gitter, das ihn verschloss, ein Kameraauge verbarg. Selbst wenn Ellen nicht im Auftrag des Professors hier war, konnte ich mir die Mühe, mich aufzurappeln, wahrscheinlich sparen, denn es würde nicht lange dauern, bis irgendwelches Personal der Klinik auftauchte, um Ellen zu holen und mich wieder an die Bahre zu tackern. Mein Blick wanderte zu der Giftspritze auf dem
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