Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Richard.
Der Guru ließ die Kamera sinken. So schwer hatte er sich das alles wohl nicht vorgestellt.
»Wie haben Sie uns überhaupt gefunden?« fragte ich. »Haben Sie jeden Einzelnen gezielt eingeladen? Jeden gelockt mit dem, was für ihn interessant sein könnte? Über Familie und Freundeskreis ausgehorcht? Haben wir ein Casting als besonders geeignete Krüppel bestanden, ohne es zu merken? Oder ist alles Zufall?«
»Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will«, deklamierte der Guru frustriert und deckte das Objektiv mit einer Plastikkappe ab.
»Ich wollte schon immer mal Kehlkopfgesang können«, sagte Kevin in die Runde. »Ich finde es richtig unglaublich fies von dir, dass du mich mit falschen Versprechen so übel reingelegt hast.«
Der Guru sah aus, als könne er damit umgehen.
»Wie fändest du das?« fragte Marlon plötzlich und stimmte ein Lied an, das ich nicht kannte. Ich kannte nicht einmal die Sprache. Helle Vokale, die von kaum hörbaren Konsonanten zusammengehalten wurden, flossen über meinen Kopf hinweg. Mir wurde schwindlig. Ich ließ mich ins Gras fallen und schloss die Augen. Für einen Moment vergaß ich alles, was mir passiert war.
»Ich werde immer gelber, weil meine Leber nicht mehr lange mitmacht«, sagte Friedrich. »Wegen der ganzen Medikamente, die ich ständig schlucken muss.«
»Armer Schnuckel«, sagte der Guru. »Das ist wirklich furchtbar.«
Wir saßen auf Plastikstühlen um einen kleinen runden Tisch herum. Der Guru hatte uns ins Eiscafé eingeladen, um die Stimmung aufzulockern. Es war ausgerechnet das Café, auf dessen Toilette ich versucht hatte, ein paar Tränen zu vergießen.
Die Kamera lief. Sie war auf das junge Mädchen in schwarzer Kellner-Uniform gerichtet, das ein Tablett mit unseren Eisbechern balancierte und versuchte, sich zwischen Stuhlbeinen und Jannes Rollstuhl zum Tisch durchzukämpfen. Ich beugte mich vor, um mein Gesicht zu verbergen. Ich hatte Angst, dass sie das Tablett sonst auf meinen Kopf fallen lassen würde. Sie hielt die Augen auf das Eis gesenkt und merkte nichts, bis sie den letzten Becher sicher auf dem wackligen Tisch abgesetzt und aufgeschaut hatte.
Ich fragte mich, ob die Kamera alles eingefangen hatte. Den interessierten Blick auf Marlon. Den irritiert-eifersüchtigen auf Janne. Den rätselnden auf Richard. Den angewiderten auf Kevin und Friedrich, der ungestört weiter über seine Innereien redete.
Und dann auf mich.
Sie konnte nicht wissen, dass ich sie die ganze Zeit betrachtete. Dass ich durch die Sonnenbrille direkt in ihre geweiteten Augen blickte. Sie stolperte über Jannes Rollstuhl zurück zur Theke. Die anderen streckten die Hände nach ihren Eisbechern aus und vermieden es, mich anzusehen. Selbst Janne schaute ein wenig verlegen drein.
»Das könnte ein geiler Film werden«, sagte Richard nach einer Pause. Und zu mir: »Du wirst der Star.«
»Ich war schon einmal der Star, danke«, sagte ich.
Jannes Gesicht war zu mir gewandt. Minutenlang, so lange wie noch nie. Ich schaute auf meine Hände, um sie nicht zu verschrecken.
»Was ist eigentlich mit dem Hund passiert?« fragte sie.
»Erschossen«, sagte ich.
»Und das Herrchen im Gefängnis?«
»Nein«, sagte ich. »Er hat eine Bewährungsstrafe bekommen.«
»Und was machst du seitdem?«
»Nichts«, sagte ich. »Ich bin noch nicht so schrecklich lange wieder zu Hause.«
»Seit wann?« fragte Marlon.
»Seit einem halben Jahr vielleicht. Oder etwas mehr. Nach den OPs war ich in der Reha.«
»Das ist lange«, sagte Janne und fuhr sich mit der Hand nachdenklich übers Knie. Sie hatte sehr schmale Finger. Ich hatte Lust, ihre Hand zu berühren. Wahrscheinlich war sie ganz kalt. Ich dachte, dass ein Ring an einem dieser langen Finger sehr schön aussehen müsste, ein schwerer Ring mit einem großen Stein, einer von denen, die Claudia gern trug. Nur dass sie ihr nicht standen, weil sie kurze und dicke Finger hatte.
Ich stellte mir vor, wie ich einen von Claudias Ringen über Jannes Finger schob.
»Spielst du Klavier?« fragte ich.
Sie ignorierte diese Frage.
»Also ich spiele Querflöte«, sagte Friedrich.
Keine Ahnung, warum ich an meiner eigenen Tür klingelte. Vielleicht, um einfach mal den schrillen Ton von außen zu hören. Es war ja niemand da. Ich hatte einen Schlüssel in der Tasche; ich war ein Schlüsselkind seit der Grundschule, und das war etwas, wofür ich Claudia wirklich dankbar war
Die Tür ging
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