Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
auf, und dort stand Johanna.
Das Leben ist voller Zufälle, dachte ich melancholisch. Erst vorhin auf der Wiese hatte ich an Johanna gedacht. Vorher hatte ich jahrelang nicht an Johanna gedacht. Und jetzt stand sie vor mir. Ich zog mir den Hut tiefer ins Gesicht und rückte die Sonnenbrille zurecht.
»Du bist so groß geworden«, atmete sie aus.
Ich ließ den Blick sinken. »Und du so hochschwanger.«
Sie wurde rot. Sie sah aus, als hätte sie einen Basketball verschluckt. Ich guckte tiefer: Das Kleid war kurz wie damals, die Kniestrümpfe geringelt. Sie hatte etwas von einer überreifen Pippi Langstrumpf. Sie studierte, wenn ich mich recht erinnerte, schon seit Jahren irgendetwas Soziales.
»Darf ich reinkommen?« fragte ich.
Sie trat zur Seite. »Ist ja dein Zuhause.«
»Was tust du denn hier?«
»Frau Hermann geht es nicht gut.«
Ich schaffte es für einen Moment, meinen Blick von ihrem Bauch zu lösen.
»Was Ernstes?«
Sie antwortete nicht.
Es war merkwürdig, dass ich mich ausgerechnet heute an die Zungenküsse mit ihr erinnert hatte. Was brachte eine Frau Anfang zwanzig dazu, mit einem Fünfzehnjährigen zu knutschen? Okay, ich hatte älter gewirkt, das hatte sie anschließend beteuert. Ich hatte nicht vergessen, mit welchem Blick sie mich damals angesehen hatte.
Ich schob mich an ihr vorbei.
»Wie geht’s so?« fragte sie meinen Rücken.
»Siehst du doch.«
»Es gibt Schlimmeres«, murmelte sie. »Mach dir nix draus.«
»Niemals. Ist ja nur ein Gesicht.«
Zum nächsten Treffen hatte uns der Guru wieder in den Meditationsraum des Familienbildungszentrums gebeten. Diesmal war er pünktlich. Wir waren alle pünktlich. Janne und Marlon saßen schweigend da. Friedrich plauderte mit Kevin über Albträume. Richard las wieder Zeitung.
Der Platz zwischen ihm und Kevin war frei.
»Hi, Marek«, sagte Janne lächelnd, und ich hätte mich beinah am Stuhl vorbei auf den Boden gesetzt.
»Hi, Janne.« Mein Gesicht prickelte. Richard faltete die Zeitung zusammen und warf mir einen langen Blick zu.
»Leute, so geht das nicht«, sagte der Guru plötzlich.
Ich hatte ihn fast vergessen. Er saß ziemlich klein und langnasig und etwas zu verzweifelt auf seinem Stuhl.
»Es tut mir leid, Leute«, sagte der Guru in die eingetretene Stille hinein.
»Was?« fragte Marlon.
»Es war eine blöde Idee.« Der Guru sah zur Seite, als wollte er Marlons Blick ausweichen, als hätte er vergessen, dass Marlon sowieso nicht sehen konnte. »Ich gebe euren Eltern das Geld für eure Teilnahme zurück und wir lösen die Gruppe wieder auf. Es wird nicht funktionieren. Ich habe mich überschätzt.«
Ich stellte mir vor, wie ich mit hundert Euro in der Tasche wieder nach Hause ging. Ich musste Claudia ja nichts davon erzählen. Sie würde nicht einmal mitbekommen, dass ich nicht mehr jeden Donnerstag um halb vier das Haus verließ. Ich könnte wieder den ganzen Tag lang ohne lästige Unterbrechungen meinen Fischen zusehen und dazwischen die Fotos verunstalteter Menschen in einschlägigen Nachschlagewerken betrachten. Ich wäre nicht mehr Teilnehmer einer Selbsthilfegruppe für Jugendliche mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Ich könnte ihnen allen leichten Herzens Adieu sagen.
Vor allem Janne, die es unter ihrer Würde fand, mir zu antworten.
Marlon saß regungslos da. Wahrscheinlich war er auch noch unverschämt fotogen. Ich war auch mal fotogen gewesen.
Friedrichs Gesichtszüge waren weich, der Mund bewegte sich lautlos. Richard zupfte sich stirnrunzelnd am Ohrläppchen. Kevin lächelte versonnen und sah auf Marlon. Und Janne …
Janne sagte laut: »Nein!«
»Was, nein?« Der Guru ließ seinen Hut auf dem Knie rotieren, genau wie ich es auch manchmal machte. »Ich sage ja, ich bitte euch alle um Verzeihung. Ihr kriegt das Geld zurück.«
»Suchen Sie dann andere Behinderte?« fragte Friedrich.
Der Guru winkte ab. »Ihr seid nicht zu ersetzen. Es war von vornherein zum Scheitern verurteilt.«
»Nein«, wiederholte Janne.
Sie saß neben Marlon, sehr aufrecht, und ihre grünen Augen schienen Funken zu sprühen. Ich konnte mich einfach nicht an dieses Gesicht gewöhnen, ich war jedes Mal erneut überrascht. Und obwohl zwischen ihr und Marlon genau so viel Abstand war wie zwischen mir und Friedrich, sah ich sie plötzlich zusammen. Und ich dachte, dass es ein solches Paar noch nicht gegeben hat, nicht im Kino und nicht im Leben. Ein Paar, dem man schon aus ästhetischen Gründen Glück
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