Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Tür auf. Das Abteil war schon voll. Janne saß neben Richard. Friedrich und Kevin hatten die Plätze gegenüber eingenommen. Die letzten freien Sitze waren vom Gepäck blockiert. Janne warf uns einen Blick zu, in dem ich lesen konnte, dass sie einen Teil ihrer Nachbarn liebend gern gegen uns ausgetauscht hätte. Vielleicht galt das aber auch nur für Marlon.
Er hatte Glück, dass er nicht sehen konnte, wie spielend leicht Richard Janne auf dem Gleis hochgehoben hatte. Nachdem ich mich so ungeschickt mit dem Rollstuhl angestellt hatte, sah ich Richard mit anderen Augen. Und es war klar, dass Janne es auch tun musste. Mir wäre es auch auf zwei eigenen Beinen nicht gelungen, ein Mädchen in den Zug zu tragen. Ich musterte misstrauisch Richards Oberarme, aber unter den weitgeschnittenen karierten Ärmeln ließ sich nichts Besonders erkennen.
Vielleicht wiegt sie ja nichts, beschloss ich. Vielleicht wiegen auch nur ihre Beine nichts. Beine machen bestimmt ganz viel vom Gesamtkörpergewicht aus. Ich muss nur etwas mehr Sport treiben, dann kann ich sie auch tragen.
Der Guru winkte aus dem benachbarten Abteil.
Marlon stand da wie eine Statue, die jemand aus Versehen am falschen Ort enthüllt hatte. Sein Gesicht drückte gar nichts aus. Ich sagte zu ihm: »Hier ist voll. Der Guru winkt uns aus dem benachbarten Abteil«, damit er sich nicht wunderte, warum wir immer noch nicht saßen, sondern blöd herumstanden. Ich fragte mich, wie sich Marlon überhaupt durch die Stadt bewegte, ob er sich jemals in Gegenden wagte, die er nicht kannte. Vielleicht wäre ein Stock oder ein Hund wirklich ganz passend gewesen. Ich hatte schon alles Mögliche über ihn gedacht – bloß hilflos war er mir bislang noch nie vorgekommen.
Wir setzten uns zum Guru, nachdem ich meinen Koffer und Marlons Sporttasche auf die Gepäckablage gewuchtet hatte. Mir kam der frappierende Gedanke, dass ich hier zu den am wenigsten beeinträchtigten Teilnehmern gehörte. Dafür war ich immerhin der Hässlichste.
Der Guru hatte seine Kappe in den Nacken geschoben und blätterte in einem Stapel Unterlagen. Zwischen undefinierbaren Zetteln sah ich ausgedruckte Tickets und ganzseitige handschriftliche Notizen. Ich reckte den Hals, weil ich das Gefühl hatte, auf einem dieser Blätter Claudias Schrift erkannt zu haben.
Der Guru hatte zwei tiefe Querfalten auf der Stirn. Sein Gesicht war gerötet.
»Stress?« fragte ich. Marlon saß unbeteiligt neben mir, zum Fenster gewandt, als würde er die vorbeiziehende Landschaft betrachten.
Der Guru zuckte mit den Schultern. »Wie man es nimmt.«
»Wo ist die Kamera?« fragte ich.
»Welche Kamera? Ach so.« Er deutete auf die blaue Tasche in der Gepäckablage.
»Darf ich?«
Er hatte ganz offensichtlich nicht die geringste Lust, mir seine Kamera zu geben, stand aber trotzdem auf und streckte sich nach der Tasche, holte die Kamera mit beiden Händen heraus und reichte sie mir. Ich drehte sie hin und her. Sie sah billig aus.
»Geht es überhaupt mit so einer?« fragte ich. »Lässt sich damit ein richtiger Film drehen?«
»Na klar«, sagte der Guru, ohne mich anzusehen. »Soll ich dir erklären, wie das geht?«
»Ich komm schon zurecht«, sagte ich und drückte probeweise auf ein paar Knöpfe.
Marlon rührte sich immer noch nicht. Ich schaltete die Kamera ein, ließ die Aufnahme laufen und richtete das Objektiv auf Marlon. Keine Ahnung, was er mitkriegte, aber plötzlich sagte er: »Ich hau dir gleich eins in die Fresse.« Ich dachte mir, dass er sie dazu erst einmal in seiner ewigen Dunkelheit finden müsste, sagte aber nichts. Auch nicht, dass ich ihn vorhin auf dem Gleis einfach hätte stehen lassen können. Ich nahm die Kamera mit in den Gang und filmte die vorbeiziehenden Kleingärten.
Im anderen Abteil wurde gelacht. Ich konnte es nicht fassen. Bei uns war die Stimmung wie bei einer Beerdigung, und die lachten, als wären sie bei einer Klassenfahrt. Ich richtete die Kamera auf die Tür. Sie hatten die Vorhänge zugezogen. Keine Chance, unbeobachtet einen Blick hineinzuwerfen. Ich kam mir ausgesperrt vor und rüttelte an der Tür.
Das Lachen verstummte. Ich schob die Tür auf und den Vorhang beiseite. Friedrichs Glucksen erstarb zuletzt. Sie sahen mich an, als wäre ich das Gespenst ihrer verstorbenen Großtante. Ich betrachtete sie durch den Sucher. Sie waren dabei, Karten zu spielen. Eine Gummibärchentüte wanderte herum.
Ich richtete die Kamera auf Janne. Sie mischte die Karten und sah dabei auf ihre
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