Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
zwanzig Minuten zogen sich endlos. Der Asphalt ging in einen Schotterweg, später in einen Pfad über. Irgendwann stellte ich fest, dass wir schon fast eine Stunde unterwegs waren. Keiner sagte etwas, nur Kevin summte ein Lied. Er bewegte sich wie ein Storch auf seinen Stöckelschuhen, schwenkte die Handtasche hin und her, und es schien ihn nicht zu stören, dass seine Absätze in der sandigen Erde stecken blieben. Der Guru war einige Meter vorausgelaufen und telefonierte seit zehn Minuten.
»Ich habe Hunger, ich habe Hunger«, wiederholte Friedrich wie in Trance.
»Dann friss Gras«, sagte Marlon plötzlich.
Das mussten die ersten Worte gewesen sein, die ich an diesem Tag von ihm hörte. Er hatte mich endlich losgelassen und ging mit tastenden, federnden Schritten in der Mitte unseres Trupps. Ich wartete darauf, dass er mit jemandem zusammenstieß, aber es passierte nicht. Ab und zu machte er merkwürdige Schnalzgeräusche mit der Zunge.
»Ich hab so was in der Sendung mit der Maus gesehen, aber nicht verstanden, wie es funktioniert«, sagte Friedrich begeistert.
Marlon dachte nicht daran, es ihm zu erklären.
Als ich mir sicher war, dass wir uns verlaufen hatten, steckte der Guru plötzlich das Telefon ein und ruderte mit den Armen.
»Wir sind da!« brüllte er. Von dort, wo wir waren, war immer noch nichts außer Wald zu sehen. Der Guru wartete, bis wir ihn einholten. Und als es so weit war, war ich nicht der Einzige, der mit aufgerissenem Mund stehen blieb.
Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet. Dass wir auf einen Pferdestall stoßen würden oder ein paar Weideniglus oder einen Haufen zusammengebrochener Zelte. Am wenigsten hätte ich eine Villa im Wald erwartet, deren Türme in die Wolken ragten. Vor dem Haus breitete sich eine gepflegte Wiese aus, weiter hinten war eine Art Gartenhäuschen mit einem Grill und ordentlich gestapeltem Kaminholz. Unser Gepäck türmte sich vor der Treppe, die zum Eingang führte.
»Es muss auch einen anderen Weg hierher geben«, sagte Friedrich tiefsinnig und fischte seinen Rollkoffer und seinen Rucksack heraus.
Ich stand immer noch da, die Griffe von Jannes Rollstuhl umklammert. Auch sie hatte ihren Kopf zu den Türmen hochgerissen. Der Guru kletterte die Treppe hoch und steckte die Hand unter den Fußabtreter.
»Hier ist übrigens auch eine Rampe!« rief er uns zu und richtete sich auf. Seine Hand hatte er stolz in die Luft gereckt, darin glänzte ein Schlüssel.
Ich setzte mich auf das Bett und schnürte die Turnschuhe auf. An der gegenüberliegenden Wand stand ein zweites Bett. Darauf lag Marlon, die Arme über der Brust gekreuzt. Er hatte immer noch seine Sonnenbrille auf, also konnte ich nicht sagen, ob er schlief. Sein Atem ging kaum hörbar und gleichmäßig.
So nah waren wir uns schon, dass ich auf seine Atemzüge horchte. Ich sah es überhaupt nicht ein. Die behindertengerechte Villa war groß genug, um jedem ein Einzelzimmer zu gewähren. Ich hatte den Verdacht, dass das gemeinsame Schlafen hier zum Konzept gehörte, und ich war ein Gegner von solchen Konzepten.
Das Zimmer war geräumig, mit einer drei Meter hohen Decke, von der ein mit Patina bedeckter monströser Leuchtkörper herunterhing. Es gab ein riesiges Fenster, das Marlon sofort gefunden und aufgerissen hatte. Die leichten weißen Vorhänge flatterten im Wind, und ich fühlte mich wie in einem impressionistischen Gemälde. Der Schrank sah antik aus. Am Fenster stand ein Sekretär, auf dem ich vergeblich ein Tintenfass suchte. Es war ein riesiges, fantastisches Zimmer, aber mit Marlon zusammen fühlte ich mich eingesperrt.
Um mich abzulenken, versuchte ich mir vorzustellen, wie Marlon meine Nähe wahrnehmen musste. Wahrscheinlich war ich für ihn eine undefinierbare schwitzende, schnaufende, Wärme ausstrahlende Masse.
»Warum liegst du wie aufgebahrt da?« fragte ich.
Er antwortete nicht. Ich hatte auch nicht damit gerechnet. Ich ahnte so ungefähr, was in ihm vorging. Auch er hatte sich alles anders vorgestellt. Er hatte sich und die Fahrt falsch eingeschätzt und war durch seine Hilflosigkeit vor Janne gedemütigt worden. Also hatte er mindestens genauso viele Gründe, alles hier zu hassen und mich dazu.
Ich öffnete die gut geölte Zimmertür, ging hinaus und schloss sie leise hinter mir.
Der Guru räumte volle Einkaufskisten aus, die jemand vorsorglich in die Küche gestellt hatte. Jetzt sah er etwas entspannter aus. Über die polierte Holzarbeitsfläche
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