Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Angst hatte. Vielleicht gab es aber auch nicht viel, wovor sie überhaupt Angst hatte.
Das Denken strengte mich an. Ich wollte nicht mehr denken. Im Krankenhaus, mit den Verbänden, die aus mir eine Mumie gemacht hatten, war mir nicht viel übrig geblieben außer Denken. Also hatte ich dagelegen, und meine Gedanken hatten rotiert, bis mir schwindlig wurde. Manchmal hatte ich versucht, sie mit Musik oder einem Hörbuch zum Schweigen zu bringen, aber die Gedanken waren immer lauter gewesen. Nichts hatte mich jemals so angestrengt.
Ich neigte den Kopf, schüttelte ihn, als könnten die Erinnerungen zum Ohr rausfallen, beugte mich zu Janne herunter und küsste sie. Sie drehte sich weg, ich erwischte ihre kühle Nasenspitze und ein wenig von der Wange, zart und mit einem unsichtbaren Flaum bedeckt. Ihre Haut schmeckte bitterer als beim ersten Mal. Aber sie roch wieder nach Limette, frisch und zerbrechlich wie eine Blüte, deren Zartheit man schon gefährdete, wenn man an ihr schnupperte. Sie schob mich weg und verzog das Gesicht.
»Bist du dafür gekommen?« fragte sie.
»Du nicht?«
Ich dachte, dass sie jetzt böse werden würde, aber sie lachte nur.
»Wo ist eigentlich Marlon?« fragte sie.
Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Es war der einzige Satz, der jetzt nicht hätte fallen dürfen. Ich schnappte nach Luft.
»Was willst du mit ihm? Er kann dich nicht einmal sehen.«
Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu. Vor solchen Blicken hätte ich mich eher fürchten müssen. Das bisschen Angst in den Augen anderer Leute war gar nichts dagegen.
»Sag ihm, dass ich ihn sehen will. Wenn es keine Umstände macht. Und jetzt zisch ab.«
»Dir auch einen schönen Abend.« Ich knallte die Tür hinter mir zu.
Natürlich sagte ich Marlon gar nichts. Ich war hier nicht die Mutter Teresa. Ich ließ ihn weiter in der nachdenklichen Haltung eines Leichnams in unserem gemeinsamen Zimmer ruhen. Unser gemeinsames Zimmer – schon bei dieser Formulierung drehte sich mir der Magen um. Wahrscheinlich hätte ich es nicht einmal mit Janne in einem Zimmer ausgehalten.
»Verwöhntes Einzelkind«, konstatierte der Guru mit dem vielsagend gütigen Lächeln, das ich inzwischen so hasste. Er schaute sich gerade auf seiner Kamera an, was er in den Stunden davor aufgenommen hatte, schirmte aber das Display vor mir ab. Ich hatte ihn gesucht, um mich mal wieder zu beschweren. Außerdem hätte ich ihm am liebsten die Kamera weggenommen und alles besser gemacht. Mir war längst klar, was für ein Dilettant er sein musste. Wenn die anderen es nicht kapierten, war es ihr Problem.
Er richtete die Kamera auf mich.
»Ja, ich bin ein verwöhntes Einzelkind«, sagte ich ins Objektiv und war mit dem Satz noch nicht fertig, als mir einfiel, dass er rein faktisch falsch war. Ich war streng genommen kein Einzelkind. Ich hatte einen kleinen Bruder.
Ich hatte ihn noch nie gesehen, außer auf Fotos, die mir Claudia vor Jahren unter die Nase gehalten hatte. Auf den Fotos strampelte ein nacktes Baby. Ich hatte mir das alles sofort verbeten. Mit dem Baby wollte ich nichts zu tun haben, weil ich auch mit meinem Vater nichts mehr zu tun haben wollte, der ein großes Herz voller Liebe für unser Au-pair gehabt hatte und die Hoden voller flinker Spermien, die mein seliges Einzelkinddasein ein für alle Mal zerstört hatten.
Ein paar Mal war mein Vater nach Berlin gekommen, angeblich, um mich zu treffen. Ich vermutete, dass er hier einfach Geschäftstermine hatte. Claudia zuliebe war ich mit ihm einmal in den Zoo gegangen und einmal ins Naturkundemuseum. Wir hatten auf einer Parkbank Eis gegessen, das mir schon damals nicht besonders geschmeckt hatte, und er hatte mir ein Foto dieses anderen Jungen zeigen wollen, dessen Vater er geworden war. Ich hatte ihn gefragt, warum er dann hier mit mir sitze, wenn er doch schon einen anderen Sohn habe. Mehrere Söhne gleichzeitig zu haben, schien mir damals komplett absurd. Er hatte merkwürdig gehustet und dann einen großen Bissen von seiner Eiswaffel genommen. Wahrscheinlich hatte es ihm dabei ganz schön an den Zähnen wehgetan, so wie er das Gesicht verzogen hatte.
Später hatte er mir Briefe geschrieben und zum Geburtstag und Weihnachten erst Legopakete, später Geldscheine geschickt. Ich hatte die Briefe nicht beantwortet, weil ich zu höflich war, ihm die Dinge zu schreiben, die ich wirklich dachte. Die Geschenke nahm ich trotzdem.
Dann kam der Rottweiler. Claudia hatte erzählt, mein
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