Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Vater sei sofort ins Krankenhaus gekommen. Ein einziges Mal. Es war hart für ihn gewesen, hatte Claudia gesagt.
»Ich bin ein verwöhntes Einzelkind«, wiederholte ich. Aber der Guru wanderte mit der Kamera schon die Treppe hinunter.
Der Guru hatte geblufft. Am ersten Abend kochte er selbst. Kalbsschnitzel im Speckmantel, grüne Bohnen, Kartoffeln aus dem Backofen, zum Nachtisch selbst gemachte Panna cotta mit Himbeersauce. Ich hatte solchen Hunger, dass mir die gierig runtergeschlungenen Köstlichkeiten fast im Hals stecken blieben. Mein Magen verkrampfte sich.
»Du solltest Koch werden«, sagte ich zum Guru. »Das ist deine wirkliche Berufung.«
Er schaute mich aus traurigen Dackelaugen über den Tisch an.
Ich hatte mich zwischen Friedrich und Richard gesetzt. Mir gegenüber saß Janne. Obwohl sie die ganze Zeit zu essen schien, wurde ihr Teller nicht leerer. Friedrich neben mir stöhnte vor Wonne. Wir hatten lange auf dieses Abendessen warten müssen und praktisch nichts zum Mittag gehabt. Als Friedrich versucht hatte, sich darüber zu beklagen, hatte der Guru geantwortet, dann solle er halt zum nächsten Supermarkt laufen und sich was besorgen. Friedrich hatte skeptisch aus zusammengekniffenen Augen in den Wald geschaut. Da niemand bereit gewesen war, ihn zu begleiten, war er in der Villa geblieben und hatte alle mit seinem knurrenden Magen genervt.
»Frisst du immer so viel?« fragte Richard Friedrich über meinen Kopf hinweg.
Friedrich schüttelte den Kopf. »Normalerweise mehr.«
Ich nahm mir nach und dachte mit vollem Mund, dass der Guru streng genommen gar kein übler Kerl war. Irgendetwas stimmte zwar gewaltig nicht mit ihm, aber das konnte man heutzutage von jedem behaupten. Mit vollem Magen fiel es mir schwer, mich auf die Schattenseiten der bevorstehenden Woche zu konzentrieren. Fast begann ich, mich darauf zu freuen.
Bis mein Blick auf Marlon fiel. Er saß neben Janne. Sie hatte ihn eingeladen, den Platz neben ihr einzunehmen, sobald er am Tisch aufgetaucht war. Mich übrigens nicht. Da hatte er gerade zum ersten Mal heldenhaft das Bett verlassen. Jetzt saß er neben ihr und führte mit der Gabel kleine Bissen zum Mund, und ich wartete vergeblich darauf, dass ihm irgendwas herunterfiel.
Ich versuchte die beiden entspannt und wohlwollend anzusehen, was mir so lange gelang, bis Janne Marlon über den Arm strich und ihm irgendwas ins Ohr flüsterte.
Da war ich plötzlich satt. Ich warf die Gabel am Teller vorbei auf den Tisch. Sie fiel klappernd auf den Boden.
»Wie ist eigentlich unser Programm?« fragte Kevin.
»Haben wir eins?« fragte Marlon, und ich konnte sehen, wie Jannes warmer Atem sein Haar verwuschelte.
Während der Guru, immer noch mit einer Kochschürze angetan, die geplanten Ausflüge zu den Kirchen und Kuhställen der Umgebung erläuterte, stand ich auf und nahm die Kamera von der Arbeitsfläche. Ich schaltete sie ein und lief um den Tisch herum. Eigentlich wollte ich es für Janne tun, damit sie immer noch denken konnte, dass sie bald als großer Star rauskäme, raus aus der youtube-Schmuddelecke sozusagen. Wenn es sie doch so glücklich machte, dass irgendjemand sie anschaute.
In Wirklichkeit machte mir das Filmen einfach Spaß. Ich zoomte auf die Teller. Auf Friedrichs fettig glänzende Lippen. Auf Jannes Hand, die sich in Marlons Armbeuge verirrt hatte. Durch das Display sah ich es endlich nicht mehr als etwas, was mich wahnsinnig machte, sondern als spannendes Motiv. Auf Jannes vollen Teller. Sie hatte nur die Bohnen gegessen und ein kleines Stück von ihrem Kalbsschnitzel abgeschnitten. Es war der einzige Teller, der nicht ganz leer war.
Magersüchtig ist sie auch noch, dachte ich. Dann zoomte ich auf ihre an Marlons Arm herumspielenden Finger, und mein Mitgefühl hielt sich in Grenzen.
Ich war so vertieft, dass ich vom Vortrag des Gurus, was wir denn hier gemeinsam vorhatten, nichts mitkriegte. Ich betrachtete Jannes Gesicht auf dem Display. Darin war glasklar zu lesen, dass sie mit dem Programm nicht einverstanden war. Sie wollte im Haus bleiben. Der Guru sagte, kein Problem, dann seien eben nur die anderen auf den Aufnahmen.
Volltreffer.
Ich richtete die Kamera auf das Gesicht des Gurus. Stellte schärfer für die kleinen Fältchen um die Augen. Er war älter, als ich zuerst gedacht hatte, und nicht mehr so hektisch wie am Anfang. Aber so richtig entspannt sah er immer noch nicht aus, eher wie ein nervöser, vom Leben zerfetzter Teddybär. Der Mund war
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