Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Höhe.
»Marlon«, sagte ich, nachdem alle ratlos zum verdammten Gerät aufgeschaut hatten.
»Wie kommt er dahin?« Der Guru legte den iPod vor Marlon auf den Tisch. Marlon steckte ihn wortlos ein.
Der Plan für heute war, zusammen in den Ort zu gehen. Der Guru sagte, dass er nicht dazu da sei, um Lebensmittel für sechs große Kerle – fünf große Kerle und eine Dame – ins Haus zu schleppen. Wir sollten vorher überlegen, was wir kochen wollten, dann würden wir es gemeinsam einkaufen und heimtragen. Wer wollte anfangen?
Es meldete sich nur Kevin.
Ich trank den Saft, der sauer in meinen krampfenden Magen tropfte, und musterte Janne und Marlon. Ich wollte wissen, ob sich ihre Gesichter seit gestern verändert hatten. Ob sie sich verändert hatten. Ich fraß sie mit den Augen. Fragte mich, ob der Streifen in Marlons Gesicht der Abdruck von Jannes Kissen war. Überlegte, wieso der Guru dieses Sodom und Gomorrha erlaubte. Ob ihm überhaupt auffiel, was hier gerade lief. Ob Jannes Mutter es toll gefunden hätte zu erfahren, dass Janne hier so geschätzt wurde, dass sie sich den Gefährten für die Nacht ganz frei aussuchen konnte.
Ich war bereit, das ganze Arsenal an Waffen aufzufahren, nur um Marlon nicht neben Janne zu sehen. Es gab nichts Verbotenes: Ich hatte nichts dagegen, ihn zu verpetzen, zu denunzieren oder zu verletzen. Ich fühlte mich, als wäre ich gar nicht mehr ich, sondern der Rottweiler, der nur noch sabbern und beißen konnte.
»Hör auf zu fressen«, sagte ich zu Friedrich, der das dritte weiße Brötchen mit Butter, Frischkäse und Marmelade bestrich.
»Fick dich ins Knie«, antwortete Friedrich. Vor Überraschung wusste ich gar nicht, was ich antworten sollte. Selbst Janne hörte für einen Moment auf, Marlon unter dem Tisch zu massieren, und richtete ihre mandelförmigen Scheinwerfer auf uns.
»Guten Morgen, Marek«, sagte sie, als hätte sie mich gerade erst entdeckt.
Guten Morgen, Rollstuhlschlampe, lag mir auf der Zunge. Und das war noch das Netteste, was mir für sie einfiel. Ich erkannte mich selbst kaum wieder. Seit dem Rottweiler hatte ich mich nicht mehr so angegriffen gefühlt.
Ich säbelte an einer Speckscheibe herum, einfach um irgendwas zu tun. Hunger hatte ich nicht mehr. Die anderen waren schon aufgestanden und hatten sich in alle Richtungen verteilt. Friedrich schleppte sich mit hängenden Schultern zum Spülbecken.
Marlon stand am Treppenabsatz, die Hand auf dem Geländer. Ich dachte daran, wie gern ich gestern das glatte Holz berührt hatte. Jetzt hatte er die Hand genau auf dieselbe Stelle gelegt. Ich wollte nie wieder, dass jemand etwas anfasste, das mir etwas bedeutete. Ich stand auf, ging die Treppe rauf auf Marlon zu und riss mir die Brille vom Gesicht, um ihn besser sehen zu können. Marlon drehte den Kopf zu mir, noch bevor ich ihm auf die Schulter getippt hatte.
»Kann sie überhaupt was spüren?« fragte ich. »Da unten, mein ich?«
Hinter mir wurde es ganz still. Marlon drehte sich mit seinem ganzen Körper zu mir. Dann legte er mir die Hand auf die Schulter, fast umarmte er mich. Die andere Hand legte er mir kurz auf den Kopf. Ich begriff zu spät, dass er mich damit einfach in der Landschaft ortete. Sein Faustschlag traf genau in die Mitte meines Gesichts und riss mich von den Füßen. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel die Treppe herunter.
Es war ein bisschen wie damals und doch ganz anders. Wieder hatte ich kein Gesicht mehr und drückte meine Hand, die es nicht hatte schützen können, dagegen – nur dass diesmal kein Tier daran hing. Dort, wo früher mein Gesicht gewesen war, war ein rohes Schnitzel mit zertrampelter Oberfläche. Kein anständiger Mensch käme auf die Idee, gutes Fleisch derart zu verschandeln. Es tat weh, aber die Schmerzen fühlten sich anders an, als wären sie nicht Teil von mir. Mit Schmerzen hatte ich generell nicht mehr so viele Probleme. Ich konnte inzwischen direkt auf die Herdplatte fassen und nicht merken, dass ich mir die Fingerkuppen verkohlte. Vielleicht hatte ich damals eine Überdosis Schmerzmittel abgekriegt, die für mein ganzes Leben reichte.
»Jetzt nimm deine Hände vom Gesicht«, hörte ich Richards Stimme. »Viel schlimmer kann es sowieso nicht mehr werden.«
Weil ich mich nicht rührte, zerrte irgendjemand an meinen Handgelenken. Ich trat mit dem Fuß und erwischte, wie ich zufrieden merkte, etwas Weiches und Nachgiebiges. Es ertönte ein Ächzen in mehreren Tonlagen.
Am liebsten hätte
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