Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Besser gesagt, ich konnte schon verstehen, dass bei ihm die Nerven blank lagen nach diesem ersten Tag. Aber ich war mir keiner Schuld bewusst, und Kevin und Janne ging es genauso. Wir versuchten es zu erklären, aber er wollte nichts hören.
»Hol die Kamera raus«, sagte Janne, als der Guru zu brüllen aufhörte.
»WAS?!« Er verlor für einen Moment den Faden.
»Die Kamera. Du musst das filmen. Wie wir verhaftet wurden. Zu Unrecht, einfach weil wir behindert sind. Das ist toller Stoff, wirklich.«
»Nicht verhaftet, sondern festgenommen«, korrigierte ich sie.
Der Guru blinzelte.
»Eure Mütter tun mir leid.« Er holte aber die Kamera aus der blauen Tasche, die er über der Schulter hängen hatte.
»Film uns, wie wir hier rausgehen«, sagte Janne.
Kevin klaubte sein Täschchen vom Boden auf und erhob sich. Ich stellte mich hinter den Rollstuhl. Der Guru hielt die Kamera hoch. In diesem Moment öffnete sich eine Seitentür, und ein Polizist fragte nach der Drehgenehmigung, brüllte, dass wir schon genug Ärger verursacht hätten, und warf uns raus.
»Kommen wir jetzt vor Gericht?« fragte Kevin und kratzte sich an der Nase. Nachdem wir die Polizeistation verlassen hatten, wollte der Guru allein in den Supermarkt gehen, dessen Filialleiter uns wegen Hausfriedensbruchs angezeigt und die Polizei geholt hatte. Wir mussten draußen warten, was uns nicht viel ausmachte.
»Ich glaube nicht, dass wir vor Gericht kommen«, sagte ich. »Das Verfahren, wenn sie überhaupt eines einleiten, wird bestimmt schnell wieder eingestellt. Keine Supermarkt-Kette kann sich heutzutage Behindertenfeindlichkeit solchen Ausmaßes leisten.«
»Hoffen wir es mal«, unkte der Guru.
»Eigentlich verbietet es der Stolz, hier überhaupt einzukaufen«, bemerkte Kevin.
»Wenn es in diesem Kaff noch einen anderen Laden gäbe«, schnappte der Guru zurück und stürmte in den Supermarkt. Ich vermutete, dass er nicht nur wegen der Polizei sauer war, sondern weil seine Grillpläne zu scheitern drohten. Dafür konnten wir wirklich nichts. Im Dorf gab es einen Metzger, aber der hatte ab mittags geschlossen. Die Kühltheke des Supermarkts hatte nur zwei Packungen dünne Schweinswürstchen zu bieten. Der Anblick dieser Würstchen schien dem Guru den Rest zu geben. Wir konnten ihn durch die Glasfront zwischen den Regalen sehen, und ich befürchtete, dass auch er in Tränen ausbrechen würde. Schließlich ignorierte Kevin das Verbot, ging in den Laden, und wenig später kamen sie beide heraus, beladen mit schweren Einkaufstüten.
Außer zehn mickrigen Würstchen grillten wir Paprika und Maiskolben, eingewickelt in Alufolie, gebuttert und gesalzen. Es war alles Kevins Idee gewesen, auch der Linsensalat und das Taboulé. Es schmeckte sensationell, und Kevin freute sich über die Komplimente, bis ich ihn fragte, ob er wirklich gern kochte oder einfach auf Bilderbuchtunte machte. Keine Ahnung, warum er gleich so beleidigt war.
»Wenn noch etwas passiert, brechen wir es ab«, lallte der Guru. In den Plastiktüten waren fünf Flaschen Rotwein gewesen. Kevin hatte jedem von uns ein wenig eingeschenkt, aber jetzt waren alle Flaschen leer. »Wenn noch irgendjemand die Treppe runterfällt oder sich prügelt, oder ich auch nur den leisesten Verdacht bekomme, dass ihr nachts nicht in euren eigenen Zimmern seid, oder ihr randaliert wieder und ich muss euch bei der Polizei rausschlagen, dann packt ihr alle sofort eure Koffer!« Er versuchte, mit der Faust auf den Holztisch zu hauen, verfehlte ihn knapp und verlor das Gleichgewicht. Marlon, der neben ihm saß, fing ihn auf.
»Ich komme in die Hölle, wenn euch was passiert«, weinte der Guru, nachdem er sich aus Marlons Griff befreit und unter die Bank gelegt hatte, um, wie er sagte, die Erde zu spüren. »So viele Kinder, und ich konnte nicht für sie da sein, und ihr seid keine Kinder mehr, und ihr habt von nichts eine Ahnung. Ihr seid doch schon verkrüppelt, da fehlt nicht mehr viel. Ein Windhauch, und ihr seid ganz kaputt. Wahrscheinlich ist das alles meine Schuld.«
Kevin, der auch schon mehr als ein Glas gehoben hatte, brach ebenfalls in Tränen aus. Er rutschte auf den Boden und legte Janne seinen Kopf auf den Schoß. Janne streichelte sein Haar. Ich versuchte, im Dunklen nicht auf den Guru zu treten, und schaute fragend zu Marlon rüber. Ich gab die Hoffnung nicht auf, dass er meinen Blick doch noch irgendwann erwidern würde.
Richard sammelte die runtergefallenen Pappteller von der
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