Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
stehen. Was ist mit dir passiert, Kleine? Wäre nicht alles leichter, wenn du wenigstens ein bisschen hässlicher wärest? Kann dich jemand lieben, so, wie du bist?«
Mein Herz schlug auf einmal so heftig, dass ich ein lautes Echo davon in meinem Hinterkopf hörte. Klopf, klopf, klopf.
»Du bist total süß, natürlich lieben dich alle«, sagte Kevin.
Anstatt ihm mit ausgefahrenen Krallen ins Gesicht zu springen, sah sie ihn dankbar an. Offenbar mochte auch sie ihn. Aber bei ihm war ich nicht so schrecklich eifersüchtig.
»Als ich kleiner war, ging ich in die Grundschule bei uns um die Ecke«, sagte sie. »Ich war das Integrationskind, und es stand eine extra Fachkraft für mich bereit. Und alle Kinder haben gedacht, dass ich mich nur verstelle. Dass ich in Wirklichkeit prima hopsen kann und nur zu faul bin, um selbst zu laufen.«
»Vielleicht hättest du ihnen nicht erzählen sollen, dass du eine verzauberte Prinzessin bist«, sagte Marlon.
Janne drehte sich zu ihm. Und ich dachte, dass das mit dem Schlag und dem Sturz völlig unnötig gewesen war. Keiner von uns hatte die Nase vorn. Janne hasste ihn nicht weniger als mich.
»Und was war dann?« fragte der Guru.
»Nach der fünften Klasse bin ich zu Hause geblieben und dann nur noch in die Schule gekommen, um die Arbeiten mitzuschreiben.«
»Geht das?« fragte Richard. »Ich meine, ist das nicht verboten? Wegen der Schulpflicht?«
»Ist es«, sagte Janne. »Aber in meinem Fall ging es.«
»Hast du auch ein Attest, dass du gestört bist?« fragte Kevin interessiert.
Janne lächelte ihn an. »Woher weißt du das?«
Der Guru legte seinen Stift beiseite und lehnte sich vor. »Was hätte ich in eurem Alter für so ein Attest gegeben.«
Und plötzlich brach es aus allen heraus. Es war laut und seltsam; es war Lachen. Selbst Janne kicherte, und auf Marlons Gesicht sah ich den Anflug eines Lächelns. Ich war der Einzige, der nicht mitlachte. Ich war schockiert. Sie alberten miteinander herum wie gute Bekannte, die ihre gemeinsame Zeit genossen. Sie freuten sich über Belanglosigkeiten und darüber, dass ich mir den Hals nicht gebrochen hatte. Sie hatten vergessen, dass wir nur eine Truppe Krüppel und Geistesgestörte waren. Ich war der Einzige, der es noch wusste. Wieder schwante mir Böses.
Wir mussten noch einmal ins Dorf, weil von den am Vortag eingekauften Lebensmitteln nichts mehr übrig war. Offenbar hatten sich die anderen die Zeit ohne uns mit Essen vertrieben. Der Guru sagte, wir drei hätten ja auch dran denken können, nach dem Arztbesuch etwas mitzubringen. Wahrscheinlich hatte er schon vergessen, wie er vor lauter Sorge um mich – oder vielleicht eher um sich selbst – Claudia anrufen wollte, damit sie mich abholte. Ich fragte, woher wir denn hätten wissen sollen, was gebraucht werde. Der Guru schüttelte den Kopf.
»Wie die Kleinkinder. Man muss alles zerkauen und in den Mund legen.«
Erstaunt über diese plötzlichen Erwartungen, sahen wir zu, wie er hektisch um den Grill herumlief, der vor dem Schuppen stand. Tagsüber war es sehr sonnig gewesen, jetzt war es schon deutlich kühler, und die Luft war klirrend klar. »Wir brauchen Grillkohle, Brot, Fleisch, Gemüse«, zählte der Guru auf und rieb den Grillrost mit einer Serviette blank. Dann fuhr er herum und schrie ohne Vorwarnung: »Was steht ihr hier noch rum?«
Kevin ging ins Haus, um sich vor der Einkaufstour frisch zu machen. Ich versuchte zu begründen, warum mir persönlich einmal Dorf am Tag völlig ausreichte. Marlon war gerade nicht in Sicht. Und dann sagte Janne plötzlich, dass sie unbedingt mitwollte.
Wegen Janne konnten wir nicht die Abkürzung durch den Wald nehmen, sondern gingen den längeren, asphaltierten Weg. Ich schob den Rollstuhl mit ihrer stummen Zustimmung und ließ mir nicht anmerken, dass es mir dabei sturzbedingt im Kreuz zog und ins rechte Bein ausstrahlte. Manchmal hielt ich an und versuchte hüftschwingend den Schmerz loszuwerden. Ich hätte mich dabei auch ausziehen können, keiner interessierte sich für mich. Janne plauderte mit Kevin über die richtige Technik für Smokey Eyes. Erst dachte ich, dass sie mit diesem Gespräch irgendjemanden parodierten, dann begriff ich, dass es ihnen sehr ernst war. Ich konnte nicht viel beitragen.
Als wir loszogen, hatte der Guru mit der Kamera auf der Treppe gestanden und unseren Abgang gefilmt, als wolle er uns daran erinnern, dass wir uns hier für irgendeinen höheren Zweck versammelt hatten.
Kevin
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