Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Tamara drehte sich zu mir. Ich tat, als würde ich sie nicht hören. Ich war sauer auf Claudia.
Ich blätterte schwere Pappseiten um. Ferdi im Kinderwagen, Ferdi im Hochstuhl, Ferdi in der Rückentrage. Wo blieb mein Vater? Hier, am Strand. Er baute eine Sandburg, und Ferdi krabbelte davon. Mit mir hatte er auch Sandburgen gebaut. Und auf den anderen Fotos war er nicht drauf, weil er sie vermutlich aufgenommen hatte.
»Wie war er so?« fragte ich Tamara.
Sie winkte ab. »Weißt du doch selbst.«
Ich wusste es aber nicht mehr. Als meine Eltern noch zusammen gewesen waren, war meist Claudia bei mir gewesen, und sie hatte immer schlechte Laune gehabt. Mein Vater hatte Tage und Nächte durchgearbeitet, und trotzdem hatte ich ihn als gut gelaunt in Erinnerung. Er hatte seine Arbeit geliebt. Ich hatte seine Geschichten beim Sonntagsbraten gemocht, über Morde ohne Leiche, über verlogene Zeugen, die zu dumm waren, um ihre Geschichten aufeinander abzustimmen, über Richter, die er schon mal mit sechzig Befangenheitsanträgen pro Sitzung zur Weißglut treiben konnte. Ein bisschen hatte ich ihn dafür verehrt, dass er so einen spannenden Job hatte. Nicht so öde wie bei Claudia, die einfach nur für Ehefrauen bei der Scheidung mehr Geld raushandelte und aus Prinzip niemals über ihre Klienten sprach.
Plötzlich brach die Erinnerung über mich herein und nahm mir den Atem. Ich hatte gar nicht gewusst, dass das alles noch da war. Wie ich mit meinem Vater samstags morgens, wenn er einmal nicht ins Büro verschwand, in Einhausen einkaufen ging. Er suchte auf dem kleinen Wochenmarkt sorgfältig die Rhabarberstangen aus und unterhielt sich mit den Leuten. Alle kannten ihn. Er fragte die Verkäufer nach ihren Familien, sie erzählten von ihren Schwiegertöchtern und Enkeln. Er wurde ständig gegrüßt, die Leute nannten ihn »Herr Anwalt«, es störte ihn nicht, dass er ständig stehen bleiben und Hände schütteln musste, im Gegenteil. Sie kannten seine Eltern und Großeltern, im inoffiziellen Ranking lag er irgendwo zwischen dem Bürgermeister und dem Pfarrer und sonnte sich in der Anerkennung. Ich lief an seiner Hand, betrachtete die Schuhe der Leute, die uns beim Einkauf störten, und mir war überhaupt nicht bewusst, wie viel davon auf mich abfärbte. Die Einzige, die sich an den majestätischen Auftritten vom Anwalt und seinem Kronprinzen störte, war Claudia. Außerdem vermisste sie Berlin und nannte Einhausen »Entenhausen«.
Und zum ersten Mal dachte ich, dass alles auch ganz anders gewesen sein konnte, als ich immer vermutet hatte. Vielleicht war mein Vater für Tamara erst dann entbrannt, als Claudia sich sowieso schon von ihm trennen wollte. Was wusste ich überhaupt davon. Ich hatte sie nie danach gefragt und fand den Moment jetzt auch nicht sehr günstig. Keine Ahnung, ob jemals ein besserer kommen würde.
Beim Abendessen saß Ferdi zum ersten Mal mit am Tisch. Wahrscheinlich hatte Tamara ihn bestochen. Sein blondes Haar stand ab wie feuchte Federn bei einem frisch geschlüpften Küken, und der Blick war gebannt vom Inhalt seines Tellers. Jedenfalls schien mir der Zeitpunkt nicht angebracht, um mit ihm über die korrekte Schreibweise von Tod und tot zu sprechen. Tamara hatte Grießbrei für alle gekocht, ein schnelles Essen, wie sie Claudia erläuterte, und in ihrer Heimat witzigerweise eine Trauerspeise .
Ferdi streute löffelweise Zucker und Zimt in seine Schale. Es staubte, als er zu rühren begann.
»Ferdi, perestan«, sagte Tamara. Perestan war wohl so etwas wie sein Zweitname.
»Ferdi, hast du deinem coolen großen Bruder mit dieser unglaublich schicken Sonnenbrille schon deine Autos gezeigt?«
Ferdi schüttelte den Kopf und schob sich einen leeren Löffel in den Mund.
»Marek will sie total gerne sehen. Stimmt doch, Marek, du willst Ferdis Autos sehen?«
»Oh ja.« Ich rückte die Sonnenbrille zurecht. »Ich bin eigentlich nur deswegen angereist.«
Ferdi riskierte einen kurzen Blick auf mich. Darin lag bodenloses Entsetzen.
»Ich habe aber selbst genug zu Hause«, beeilte ich mich zu sagen. »Zeigst du mir deine?«
Er schüttelte schnell und unerbittlich den Kopf.
»Fu, nekrasivo, Ferdi.«
»Lass ihn doch bitte«, sagte Claudia tonlos.
»Warum siehst du so aus?« fragte Ferdi plötzlich und schob sich diesmal einen vollen Löffel in den Mund, kaute eifrig darauf herum und guckte, als hätte er gar nichts gefragt.
»Es war ein Rottweiler«, sagte ich mit der gewohnten
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