Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
vermutlich ebenfalls, und jetzt war er tot.
Claudia hatte gesagt, ich solle mir am Bahnhof ein Taxi nehmen. Sie habe keine Zeit, mich abzuholen, weil sie bei Tamara und dem Kleinen bleiben müsse. Das mit dem Taxi erwies sich als schwerer als gedacht. Am winzigen Bahnhof stand kein einziges. Ich lief einmal drum herum und verschreckte ein paar Jugendliche mit Bierdosen in den Händen. Ich fragte mich, ob ich jetzt auch hier stände, wenn mein Vater bei unserem Au-pair ein Kondom benutzt hätte. Dann öffnete ich seufzend den Stadtplan auf meinem Handy und versuchte, mir die Strecke zu Fuß auszurechnen.
Als ich mich auf den Weg durch eine Parkanlage machen wollte, tauchte plötzlich ein Taxi auf. Am Steuer saß ein Mann mit einem schwarzen Schnurrbart, eher Türke als Pakistani, entschied ich, während ich mich auf seinen Rücksitz neben irgendwelche Tüten quetschte. Ich sagte ihm die Adresse. Er schaute mich im Rückspiegel an.
»Wer war das denn?« fragte er.
»Ein Rottweiler.« Es war lange her, dass ich danach gefragt worden war. Ungefähr eine Woche. Eine Ewigkeit.
»Mein Schwager hat auch Rottweiler.« Der Türke klang, als mache er mir damit ein Geschenk. »Ganz lieb. So Zähne!«
»Wenn es nach mir ginge, sollten die alle zu Knochenmehl verarbeitet werden. Meinetwegen alle Hunde dieser Welt.«
Der Türke schüttelte den Kopf. »Alle nicht. Der Rottweiler von mein Schwager ist lieb. Aber du siehst echt anders aus. Was sagt dein Mädchen?«
»Es knutscht mit einem Blinden rum«, fasste ich unsere komplexe Dreiecksbeziehung für ihn zusammen.
»Mädchen auch blind?«
Wenn es so einfach wäre, dachte ich. »Sie sitzt im Rollstuhl und ist das schönste Mädchen der Welt.«
»Scheiße«, sagte der Türke einsichtig.
Nach zehn Minuten begriff ich, dass er mich verarschte. So groß war Einhausen nicht. Es war ein Kaff mit zehntausend Einwohnern, in einer Stunde hatte man es zu Fuß durchquert, in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad.
»Sind wir bald da?«
»Bald da«, echote der Türke. »Was machst du hier?«
»Mein Vater ist gestorben«, sagte ich und wunderte mich, warum er plötzlich sehr sauer wurde und mich anbrüllte, ich solle ihn nicht verarschen. Ich konnte ihn nur mit Mühe überzeugen, mich bitte doch noch am Zielort abzusetzen.
Ich stand vor einem grauen Klotz, der zu einem großen Teil hinter einer meterhohen, nach Hustensaft duftenden Hecke verborgen war. Am Tor war ein Schild mit meinem Nachnamen angebracht, eingraviert in geschwungenen Buchstaben. Es war ein Albtraum aus Beton. Darauf war ich nach all den Jahren in unserem denkmalgeschützten Altbau nicht vorbereitet. Ich dachte flüchtig daran, dass zwischen Claudia und meinem Vater vielleicht gar nicht Tamara, sondern eher ästhetische Differenzen gestanden hatten. Und die ließen sich schwerer überbrücken als ein schwangeres Au-pair-Mädchen. Dieses Mausoleum hätte ich auch zu fröhlicheren Anlässen nicht gern betreten. Aber der Taxifahrer war schon weg und hatte mein Wechselgeld mitgenommen. Ich drückte auf die Klingel.
Es summte, und ich schob das Tor auf. Die Einfahrt war breit und von einer niedrigen Hecke gesäumt, die mich ebenfalls an einen Friedhof erinnerte. Ich steuerte die Haustür an, an der ein Kranz hing, der mich wieder an … Die Tür ging auf.
Ich versuchte mich so fleißig an einem Lächeln, dass es mich am Ohr zog.
In der Tür hatte sich ein Knirps mit abstehenden blonden Haaren aufgebaut, wie ich sie auch einmal gehabt hatte. Er trug einen Schlafanzug mit Star-Wars-Aufdruck und Hausschuhe mit Hasenohren. Mit der Mimik spielte er das berühmte Gemälde von Edvard Munch nach. Dann verschwand er blitzartig, und sein Schrei hallte irgendwo im Inneren des Hauses nach. Als ich näher kam, konnte ich hören, dass er lauthals schwor, es nie wieder zu tun, wenn der Mann mit dem Hut nur bitte, bitte wieder gehen würde.
Und dann landete ich in Tamaras Armen.
Im Gegensatz zu früher musste ich mich nicht mehr auf die Zehenspitzen stellen, um einen Blick in Tamaras Ausschnitt zu werfen. Mir wurde heiß bei dem Gedanken, wie präsent Tamaras Brüste in ihrem Jahr bei uns gewesen waren. Soweit ich es beurteilen konnte, war meine Perspektive das Einzige, was sich im Bezug darauf verändert hatte.
»Herzliches Beileid«, murmelte ich, überrumpelt von so viel sekundären Geschlechtsmerkmalen, die sich großflächig an mich drückten. Dann schaute ich ihr endlich ins Gesicht.
Früher hatte ich Tamara
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