Neobooks - Das Schloss im ewigen Eis
damit das kleine Boot, das am Ufer lag, an der Barke befestigt. Die höflichen Grußworte des Hauptmanns, die ihm dickflüssig und bitter wie Fischtran über die Lippen gekommen waren, waren lediglich mit einem Nicken zur Kenntnis genommen worden. Nur wenig später waren sie in den Nebel eingetaucht, der sich jetzt wieder lichtete.
Ein Raunen ging durch die Reihen seiner Männer, und der Hauptmann stieß unwillkürlich einen Pfiff aus. So hatte er sich immer den Lebensraum der Götter vorgestellt: Blumenwiesen, über denen ein Summen und Zirpen lag, und bunte Laubwälder, die Schatten und Stille verhießen, bedeckten die Hügel der Nebelinsel. Ein kristallklarer Bach plätscherte im steinernen Bett und lud zum Trinken ein. Am Horizont stürzten Wasserfälle aus einem zerklüfteten Gebirge, und Regenbogen färbten den Wasserdunst. Weiße Pferde grasten, und buntgefiederte Laufvögel, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, stolzierten zwischen ihnen herum. Fohlen sprangen übermütig hinter Schmetterlingen her. Süßer Duft und Gezwitscher von Singvögeln erfüllten die Luft. Ein geschwungener Pfad aus weißen Kieseln schlängelte sich durch die Farbenpracht bis hin zum Wohnsitz Königin Ayalas. Stolz ragten die vier Türme der prächtigen weißen Burg in den Himmel. In der Sonne glitzerte der Stein wie frisch gefallener Schnee. Dächer, Fensterläden und Zinnen waren darüber hinaus reich mit kostbarem Jaspis-Stein verziert, der goldgelb funkelte und mit der Sonne um die Wette strahlte. Von dieser Uferseite schimmerte selbst der Argonsee grün, und Nebel war keiner zu sehen.
Hauptmann Cornelius musste sich die Augen reiben. Nie würde er seiner Familie daheim diesen Anblick beschreiben können und nie dieses Gefühl, in einer Zauberwelt zu verweilen. Auch seine Männer standen wie angewachsen da und sahen sich um wie staunende Kinder.
Königin Ayala , Gebieterin über diese Pracht, hatte den Rat der Hohepriesterinnen gerade verlassen und schritt über funkelndes Mosaik aus weißem Stein und Jaspis durch die hohe, lichtdurchflutete, strahlend weiße Säulenhalle, gefolgt von einer jungen Frau, die über ihrem weißen Priesterinnengewand die blaue Schürze der Anwärterinnen trug. »Lexa, bitte Prinzessin Caitlin zu mir! Ich werde sie im Sonnenzimmer erwarten.«
»Ich eile, Herrin!« Die Priesterin verbeugte sich im Rücken der Königin, da sie ihrer Herrscherin durchaus zutraute, einen Mangel an Ehrerbietung zu spüren, und Ayala war nicht für Nachsicht bekannt. Lexa, die aus da’Maranda, einer kleinen Ostprovinz, stammte, war dem Ruf der Nebelfrauen auf Wunsch der Eltern gefolgt, denn unter Camora war ihr Vater, ein angesehener und wohlhabender Waffenschmied, zu einem armen Mann geworden. Auf Geheiß des Schwarzen Fürsten schmiedete er nur noch doppelseitige Axtklingen, die so gewaltig waren, dass selbst Hordenkrieger kaum Verwendung dafür haben konnten. Da Camora seine seltsame Bestellung zwar regelmäßig einforderte, aber so gut wie nie dafür zahlte, versuchte die Mutter mit Näharbeiten die Familie zu ernähren, was in einer nach Camoras Machtübernahme bettelarmen Provinz ein aussichtsloses Unterfangen war.
Lexa hörte noch die Abschiedsworte ihrer Mutter: Und Kind, bitte Königin Ayala, sich unseres Leids anzunehmen! Wenn sie käme und sähe, wie groß unser Elend ist, dass unsere Töchter vor Hunger nicht in den Schlaf kommen und unsere Söhne uns im Kindesalter entrissen werden, würde sie gewiss helfen. Sie ist mächtig, und mit ihrer Hilfe könnten die Freien Reiche den Sieg über diesen Schlächter erringen.
Als schüchterne Zehnjährige, die sich dadurch ausgezeichnet hatte, Regen, Sturm oder Dürre voraussagen zu können, hatte Lexa sich nicht getraut, der Königin die Botschaft zu überbringen, als nunmehr Neunzehnjährige traute sie sich erst recht nicht mehr. Außerdem wäre es verschwendete Zeit gewesen, denn die Nebelfrauen wussten genau um die Geschehnisse außerhalb der Insel. Schließlich waren ständig und überall Priesterinnen unterwegs, nur selten allerdings, um den Freien Reichen beizustehen. Die Hohepriesterinnen erklärten dies damit, dass es nicht die Aufgabe der Hüter göttlicher Magie sei, in den Kampf um einen weltlichen Thron einzugreifen. Lexa hatte das sogar eingesehen, bis sie gelesen hatte, dass die Nebelfrauen nicht weit in der Vergangenheit oft über den Ausgang von Kriegen entschieden hatten. Tatsächlich war Ayala die erste Nebelkönigin, die sich aus der
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