Neobooks - Die Zitadelle der Träume
glitten.
Wie im Traum stieg sie ab und betrat den Burghof.
Ein Scheiterhaufen brannte in der Mitte. Die hell lodernden Flammen hatten den aufgebahrten Leichnam, der mit einer Fahne El’Marans bedeckt war, schon erreicht. Krieger und Bürger schritten in einer schier endlosen Reihe am Feuer vorbei und erwiesen dem Toten die letzte Ehre, indem sie frische Blütenblätter ins Feuer warfen, während alle anderen dicht an dicht beieinanderknieten und Strophe für Strophe des uralten Liedes sangen, das die Toten auf ihrer Reise zu den Göttern begleiten sollte, sie davor bewahren sollte, Einsamkeit oder Furcht vor dem Unbekannten zu verspüren. Sie würden singen, bis der Leichnam verbrannt war und der Tote seinen ihm zustehenden Platz in der Halle der Helden eingenommen hatte.
Morwenas Krieger gesellten sich wie selbstverständlich dazu, knieten nieder und fielen in den Gesang mit ein.
Sie selbst konnte sich nicht mehr bewegen. Nur die größten, ruhmreichsten Helden wurden so ehrenvoll bestattet, weil nur sie eine so lange Reise vor sich hatten, bis hoch hinauf in die Vorhalle der Götter. Morwena spürte nicht die Tränen, die ihr übers eiskalte Gesicht liefen. Sie fühlte sich wie gelähmt, starrte nur unverwandt auf den Scheiterhaufen und sah im Geiste Canons eisblaue Augen vor sich, hörte seine ruhige Stimme und sein Lachen.
Bilder aus der Vergangenheit drängten sich auf: Ayalas Schloss, ihre erste Begegnung, der vierjährige Canon, wie er seinen zweijährigen Bruder hinter sich herzog und ihn mild tadelte, weil er sich nicht angemessen vor ihr verbeugt hatte. Sie sah ihn vor sich, wie er Jahre später seinen Bruder hinter seinen Rücken schob und mit noch kindlich hoher, aber fester Stimme erklärte: »Es war meine Schuld, Mutter. Ich habe nicht aufgepasst. Derea kann nichts dafür.« Sie sah ihn stolz und strahlend in seiner ersten blinkenden Rüstung in ihr Zimmer stürzen, sah seine von Schrecken und Entsetzen geweiteten Augen nach seiner ersten Schlacht.
Mit einem heiseren Aufschrei sank sie auf die Knie. Nie hatte sie geglaubt, solch einen Schmerz empfinden zu können, solch eisige Leere spüren zu können. Nur noch wie aus weiter Ferne hörte sie den Gesang, und tonlos formten ihre Lippen immer wieder den Namen ihres älteren Sohnes.
Sie fühlte eine Hand auf der Schulter, aber sie wollte nicht getröstet werden, konnte nicht getröstet werden, wollte die Hand wegstoßen. Durch den Schleier aus Tränen sah sie die Finger, lang und kräftig, die Knöchel aufgeschlagen. Sie schmiegte ihre nasse Wange an die ihr so gut bekannte Hand, genoss die Wärme.
»Mutter!«
Mit einem Seufzen schloss sie die Augen, wollte den Augenblick festhalten, nie wieder in die Wirklichkeit zurückkehren.
»Mutter, weine doch nicht. Ich bin ja hier.« Der Druck der Finger verstärkte sich.
Sie spürte Bewegung vor sich und öffnete nur unwillig die Augen aus Angst, dann nie wieder seine vertraute und geliebte Stimme zu hören.
Canon kniete vor ihr. Er war bleich und hohlwangig, und dunkle Ringe lagen unter seinen blutunterlaufenen Augen. Er hatte eine frisch genähte Wunde vom linken Auge bis zum Kinn und sah erschöpft und elend aus – ihr Blick wanderte unwillkürlich zum Scheiterhaufen –, aber er lebte, lächelte sie voller Liebe an und bat erneut leise: »Mutter, bitte, hör auf zu weinen.«
Sie starrte ihn immer noch an, konnte sich nicht sattsehen an seinem Anblick, tastete ihn ab, um sicherzugehen, dass es auch kein Trugbild war, das sie nur grausam verspottete, und riss ihn schließlich in ihre Arme.
»Den Göttern sei Dank! Ich glaubte, ich hätte dich verloren.« Ungestüm bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen.
Er legte seine Arme um sie, spürte das Zittern ihres Körpers und zog sie fest an sich. »Es tut mir leid. Wir hatten euch heute nicht erwartet, sonst hätte ich dir einen Boten entgegengeschickt. Verzeih mir!«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Sohn hatte eine furchtbare Schlacht hinter sich, in den letzten Tagen und Nächten sicher kein Auge zugetan, hatte einen großen Sieg errungen und war verwundet, aber er entschuldigte sich, weil er es versäumt hatte, einen Boten auszuschicken. Canon hatte sich immer verantwortlich gefühlt, für alles und für jeden. Das würde sich nie ändern, und auch darum liebte sie ihn so. Sie strich ihm über den Kopf und küsste ihn auf die Stirn. »Es gibt nichts zu verzeihen, mein Liebling. Und nichts muss dir leidtun. Solange du es schaffst, am Leben zu
Weitere Kostenlose Bücher