Neobooks - Highland-Frühling
noch anmutig und gebieterisch gewirkt.
Nun, gestützt auf ihren Gehstock, war sie eine gewöhnliche Frau im fortgeschrittenen Alter, die sich zufällig wie ein Paradiesvogel kleidete.
In der Sekunde, als sie die Schwelle zu dem schäbigen Korridor mit der vergilbten Raufasertapete überschritt, fiel der Glanz von ihr ab.
Wackelig tapste sie zu einem Schlüsselkasten.
»Nanu … Wo ist denn … Oh! Ich war vorhin oben, um zu lüften. Es kann sein, dass ich den Schlüssel habe stecken lassen. Bitte, Kind, gehen Sie alleine hoch und sehen sich um, ja? Es war meine Wohnung, doch ich hatte … nun ja, einen bösen Unfall. Seitdem wohne ich hier unten. Es ist nur ein Raum, aber das reicht mir auch.«
Anna nickte. »Ist gut. Ich sehe mich um und bringe Ihnen den Schlüssel anschließend ins Studio.«
Madame Jankolinis Augen, geschult und sehr aufmerksam, entging der Zollstock nicht, den Anna in ihrer Hand hielt.
»Messen Sie nur in Ruhe aus. Man muss ja wissen, ob alles passt«, sagte sie freundlich und wandte sich ab.
Anna sah ihr nach, bemerkte die erneute Wandlung, die sich dieses Mal umgekehrt vollzog – von der alten Frau zur anmutigen Diva, sowie sich die Tür zum Tanzsaal öffnete.
Die Stufen unter ihr knarrten, als Anna die steile Treppe emporstieg.
Oberschenkelhalsfraktur,
dachte sie.
Bestimmt ist sie diese Treppe hinabgestürzt.
Die Tür zu der Wohnung war angelehnt, der Schlüssel steckte. Anna zog ihn ab, ließ ihn in ihre Jackentasche gleiten und trat langsam ein. Die Tür ließ sie einen Spaltbreit geöffnet.
Sie stand, anders als erwartet, in einem großen Raum. Es hatte etwas Amerikanisches. Kein Korridor, kein Windfang, direkt das Wohnzimmer. Es dämmerte mittlerweile, und der Himmel tauchte die kahlen Wände in ein eigenartiges rotes Licht. Anna suchte nach dem Lichtschalter und legte ihn um – nichts.
Es gab keine Lampen mehr, nicht mal eine einfache Glühbirne.
Seufzend begann Anna ihre Besichtigung.
Die Wohnung war leer, bis auf eine Einbauküche, die aus den späten Sechzigern zu stammen schien – zumindest meinte Anna, dass Pastellfarben damals der letzte Schrei gewesen waren. Diese hier war mintfarben.
Es gab ein winziges Badezimmer mit einer Dusche und einen Schlafraum auf der anderen Seite des Wohnzimmers.
Als sie diesen Raum betrat, schlug Anna Hitze entgegen. Vermutlich trug einer dieser alten Heizkörper, die sich oft nicht richtig regeln ließen, die Schuld an der Temperatur. Schnell schlüpfte sie aus ihrer Jacke und ließ sie auf den Boden fallen.
Da dieser Raum nur über ein winziges Fenster verfügte, dessen schiefes Rollo es fast vollständig verdeckte, lag er im Dunkeln.
Und natürlich – auch hier gab es keine Glühbirne.
Verdammt!
Anna wollte sich gerade aufregen, als ihr einfiel, dass sie ja eh nur pro forma besichtigte. Diese Wohnung stand schon lange vor der Entdeckung der mittelalterlichen Einbauküche und der fehlenden Badewanne nicht mehr zur Diskussion.
»Tanzschule, na klar«, murmelte sie und grinste ins Halbdunkel.
Wäre die Wohnung traumhaft schön gewesen, dann hätte sie sich vermutlich geärgert, aber so, mit all diesen gravierenden Mängeln, fand sie es irgendwie sogar amüsant.
Trotzdem nagte die Neugierde an ihr. Also öffnete sie das Fenster und griff beherzt nach dem Rollo. Sie hob es ein Stück weit an und ließ es noch einmal fallen; in ihrem alten Kinderzimmer hatte das immer den gewünschten Erfolg gebracht. Und wirklich, als sie noch einmal an dem Gurt zog, bewegten sich die Lamellen. Anna triumphierte innerlich.
Doch als sie es bis zum Anschlag hochgezogen hatte und den Gurt losließ, plumpste das Ding wieder halb herab und wirbelte dabei so viel Staub auf, dass Anna husten musste.
»Mist!«, prustete sie.
Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, drehte sie sich um, um den Raum genau zu betrachten.
Das war der Moment, in dem sie schrie.
Auf dem Boden hinter der Tür, durch die sie gerade gekommen war, saß ein Mann und starrte sie an. Er rührte sich nicht, machte keine Anstalten, bei Annas Gefühlsausbruch aufzustehen, geschweige denn sie zu beruhigen. Er sah sie an, als ob ihm gerade erst bewusst geworden wäre, dass außer ihm noch jemand den Raum betreten hatte.
»Wer zum Teufel
bist
du?«, keuchte Anna, die im gleichen Moment still betete, nicht das erste Opfer einer Serie von brutalen Vergewaltigungen und/oder Morden entlang des Rheins zu werden.
Sie holte Luft, um ihn erneut anzuschreien, als sie genauer
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