Neobooks - Hinter verborgenen Pfaden: Der geheime Schlüssel I (German Edition)
er zum ersten Mal bei Tag einen lebendigen Gnom. Daris machte ihm stumm ein Zeichen und deutete in das verfilzte Gestrüpp, das den Boden in dem Erlenbruchwald überwucherte. Erst konnte er nichts erkennen, aber dann sah er eine Bewegung im Unterholz. Er zog seinen Bogen aus der Halterung im Sattel, und Daris tat es ihm gleich. Auf ein stummes Zeichen hin ließen sie ihre Sehnen singen. Der Gnom sackte wie ein nasser Sack zusammen. Agnus spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken, als er vom Pferd stieg und sich dem bewegungslosen Gnom näherte. Ein Pfeil steckte in dessen Brust, der andere im Hals. Das Blut vermischte sich mit dem Wasser und dem Schlamm, in dem er gestanden hatte. Die Augen blickten leer und unverwandt ins Nichts. Obwohl es Agnus ungeheure Überwindung kostete, beugte er sich zu dem abscheulich stinkenden Wesen hinab und sah es sich genau an. Gelbe unregelmäßige Zähne waren in dem leicht geöffneten Maul sichtbar. Es trug etwas, das wohl Kleidung sein sollte, wenn man den ausgefransten Fetzen, der seinen Oberkörper bedeckte, so nennen wollte. Um die Hüften hatte es einen Lendenschurz gewickelt. Die breiten Füße waren bloß, und aus den kurzen Zehen wuchsen gebogene Krallen hervor, was ihrem Aussehen etwas Tatzenhaftes verlieh.
»Damit finden sie auf dem sumpfigen Boden ausgezeichneten Halt«, sagte Agnus mehr zu sich selbst als zu Daris, der ihm gefolgt war.
»Ja, und damit schlitzen sie unsere Tiere auf«, knurrte Daris und deutete auf das Messer, das halb unter den Lumpen verborgen war. Als Agnus es herauszog, durchtrennte er damit den Lendenschurz, und er rutschte zu Boden. Beide Männer zogen scharf die Luft ein und sahen sich an.
»Ein Weibchen?« In Daris' Gesicht spiegelten sich Abscheu und Unglauben, ja beinahe ein schlechtes Gewissen.
»Lass uns gehen.« Agnus wandte sich angewidert ab. »Wir haben genug gesehen. Das Messer nehme ich mit und ramme es dem nächsten Gnom zwischen die Rippen.«
Daris schüttelte den Kopf. »Tut es nicht, Herr. Ein Fluch liegt auf diesen Waffen. Sie richten sich gegen uns, wenn wir es nicht erwarten, und die Verletzungen, die sie verursachen, schmerzen ungemein und heilen schwer.«
Agnus wollte die Warnung als abergläubisches Geschwätz in den Wind schlagen, aber er spürte die Kälte, die von dem Messer ausging und sich in seinem Arm ausbreitete, und er glaubte Daris. Als er das Messer davonschleudern wollte, rutschte es ihm aus der Hand und verfehlte nur knapp seinen Fuß.
Wortlos gingen sie zu ihren Pferden. Nach beinahe einer Stunde Stille, in der jeder in seine eigenen düsteren Gedanken versunken war, räusperte sich Daris.
»Was ist, wenn wir alle Gnome erschlagen haben?«, fragte er und sah Agnus von der Seite an. »Falls wir es je schaffen, sie alle zu erwischen«, fügte er hinzu. Er starrte wieder nach vorne, auf irgendeinen fernen Punkt. »Wird der Zauberer sich andere beschaffen?«
»Ich weiß es nicht«, brummte Agnus. »In keinem der Bücher, die ich zu Rate gezogen habe, steht etwas über die Entstehung von Gnomen. Vielleicht pflanzen sie sich ähnlich wie wir Menschen fort, vielleicht auch eher so wie Ratten oder andere Schädlinge? Wer kann das schon wissen.«
»Wahrscheinlich der da oben.« Daris deutete mit dem Kinn auf die dunkel schimmernde Bergkette im Süden.
»Der weiß es gewiss, und ich verspreche dir, bevor ich ihm die Kehle durchschneide, werde ich ihn danach fragen.«
»Schneidet erst, fragt dann«, knurrte Daris und lachte trocken. Agnus schnaufte.
»Es klingt so einfach. Wenn ich das tun könnte, wären wir vorerst all unsere Sorgen los. Bis der König davon erfährt. Ein Mord an diesem Zauberer ist Hochverrat. Eine offene Zurückweisung des königlichen Befehls. Genauso gut könnte ich einen Pakt mit den Elben schließen.«
»Hm«, antwortete Daris nur und schwieg für geraume Zeit. »Vielleicht solltet Ihr das tun.«
»Was?«
»Einen Pakt mit den Elben schließen.«
Agnus lachte polternd. »Natürlich, wenn du weißt, wo wir sie finden.« Er lachte noch lauter. Daris aber antwortete erst, nachdem Agnus zu lachen aufgehört hatte.
»Es ist mir gleichgültig, was der König über die Elben erzählt«, behauptete er. »Ich werde nicht gegen sie kämpfen.«
Agnus winkte ab. »Welcher Mensch hat je einen Elben gesehen? Ich zweifle sehr daran, dass es sie überhaupt gibt. Der König verfolgt andere Ziele, da bin ich mir sicher. Dass er aufrüstet, hat für mich nur einen logischen Grund. Er hat seinen
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