Neongrüne Angst (German Edition)
Flügelschlag eines Schmetterlings, denn plötzlich stand er hinter Johanna.
Einerseits war sie empört, dass er einfach ins Badezimmer hereinkam, während sie darin beschäftigt war. Andererseits erschrak sie, als habe er sie bei einem Diebstahl erwischt.
Es gab durchaus den Impuls in ihr, ihn anzuschnauzen: Wieso machst du hier die Tür auf, wenn ich im Bad bin? Aber sie fühlte sich auch schuldig, ja, erwischt.
»Du stehst auf Tili?«
»Nein, ich habe Kopfschmerzen und suche nur …«
Er grinste, als sei das die dämlichste Ausrede, die er je gehört hatte.
»Man braucht nicht viel. Ein paar Tropfen reichen aus, und du fürchtest deine Gegner nicht mehr. Du spürst keine Schmerzen mehr und wirst unbesiegbar.«
»Nimmst du das Zeug etwa?«
»Vielleicht wird es uns helfen im Kampf gegen all diese Verrückten dieser Welt.«
Er nahm ihr die Flasche aus der Hand. »Damit ist man nicht mehr wehrlos. Es ist, als würdest du einen Schutzpanzer anziehen, durch den die Schläge, die man dir verpasst, nicht wirklich dringen.«
Er nahm den Türrahmen fast ein, so, wie er dastand. Sie drängelte sich an ihm vorbei, aus dem Bad raus ins Wohnzimmer.
»Das ist«, sagte sie, »eine gottverdammte Scheißdroge. Volker und diese Freaks schmeißen das ein. Ich hatte nicht erwartet, dass du …«
Er reckte sich. »Nein, meine Liebe, jetzt zieh keine falschen Schlüsse. Sie haben es mir im Krankenhaus gegeben. Immerhin hatte ich nach der Attacke einige Kopfschmerzen.«
Sie wusste, dass das gelogen war. Die Medikamente standen schon länger hier im Schrank. Er hatte sie garantiert nicht auf dem Motorrad mit dabeigehabt und dann hier vor ihren Augen eingeräumt.
Obwohl ihr dieser Widerspruch ganz deutlich war, tat sie so, als würde sie seine Lüge schlucken, nickte und bewegte sich in Richtung Schlafzimmer.
»Ja, das dachte ich mir. Jetzt bin ich echt beruhigt. Wenn ich etwas hasse, dann Drogen, Doofheit und Gewalttätigkeiten.«
»Ich weiß«, grinste er. »Aber jetzt verrate mir doch mal eins: Schläfst du in Klamotten? Behältst du deine Schuhe an? Ich hab dir doch so ein schönes Nachthemd besorgt. Warum trägst du es nicht?«
Sie drehte sich um und sah ihn an. »Du hast es für mich besorgt?«
Er lächelte. »Leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage …«
69
Auf dem Stick fand Leon 621 E-Mails von Bonnie. Ihren Facebook-Account hatte sie schon seit einem halben Jahr vor ihrem Tod nicht mehr benutzt.
War es denkbar, dass der Verehrer mit ihr auf Facebook befreundet war? Viele der Facebook-Nachrichten waren in ihrem E-Mail-Postfach abgespeichert, aber längst nicht alle.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, öffnete Leon den Ordner »Gelöschte E-Mails« und las zuerst das, was sie nicht mehr auf ihrem Computer haben wollte. Er hatte Glück. Der Ordner war nicht leer.
Zu seiner Verwunderung waren dort viele E-Mails, die Bonnie an ihre Schwester Tanja geschickt hatte, während die mit ihrer Klasse eine Fahrt nach Berlin unternommen hatte. Ein kurzer Satz in einer Mail machte ihn stutzig:
»Mach dir keine Sorgen. B hat mir geholfen. Wenn ich B nicht hätte, wüsste ich manchmal echt nicht weiter.«
»Hast du dich in ihn verliebt?« , fragte Tanja nach.
»Quatsch!«, antwortete Bonnie. »Der ist mehr so ein Kumpeltyp. Er ist der große Bruder, den ich mir im Grunde immer gewünscht habe. Ich hab ihn nie wirklich beachtet, aber jetzt, in dieser schlimmen Krisenzeit, steht er mir zur Seite.«
»Du hast ihm doch nichts erzählt?«
»Nein, bisher noch nicht. Aber er spürt, dass ich in Not bin und Unterstützung brauche. Ich glaube, heute Abend werde ich mich ihm anvertrauen. Er hat gesehen, wie ich erwischt wurde, weil mein Verehrer mich zum Klauen geschickt hat. B hat mir geholfen. Er ist wirklich so lieb …«
Wer, verdammt, ist B, und warum hat Tanja mir kein Wort davon gesagt? Wenn B so nah an Bonnie dran war, dann weiß er vielleicht mehr. Ich muss mit ihm reden, dachte Leon.
Er spürte Wut in sich aufsteigen, weil Tanja ihm nichts erzählt hatte. Er sollte sie sofort anrufen, aber es war früh am Morgen. Er kratzte sich die Kopfhaut und rang mit sich, ob er noch für zwei Stunden die Augen zumachen oder lieber weiter in den E-Mails stöbern wollte. Sein Verstand sagte ihm, er solle sich ausruhen. Doch seine Finger klickten weitere E-Mails an, und seine Augen lasen, so als könnten sie selbständig handeln, ohne sein Dazutun.
Er kam sich fast vor wie ferngesteuert. Er konnte nicht aufhören, diese
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