Neongrüne Angst (German Edition)
Die Männer machten auf ihre Kosten schmutzige Witze.
Dann erkannte Johanna das Gesicht der Frau. Es war ihre Mutter.
Johanna hatte das Oma-Nachthemd durchgeschwitzt. Es war schwül im Raum. Sie musste sich aus dem Bett quälen, als ob ihre Knochen bleischwer wären. Sie hatte es schwer, bis zum Fenster zu kommen. Dann riss sie es auf, um besser atmen zu können.
Sie sah in den Sternenhimmel.
Mein Gott, was für ein Traum!
Du darfst nicht mehr darüber reden, sagte sie sich selbst. Damit machst du alles nur noch schlimmer.
Seine Worte klangen noch in ihr nach: »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Wenn du nicht kommst, meinst du, ich sollte mich dann stattdessen mit deiner Mutter verabreden? Meinst du, sie würde mir meine Wünsche lieber erfüllen?«
Er bedrohte damit ganz klar ihre Mutter und im Prinzip auch alle Leute, die ihr aus seiner Sicht nahe waren und etwas über den Fall wussten.
Sie wollte ein Glas Wasser trinken, verschüttete aber die Hälfte, so sehr zitterte sie.
Im Radio lief irischer Folk. Da klingelte das Telefon noch einmal.
Er war wieder dran, aber er klang anders als vorher. Seine Stimme war irgendwie verzerrter, weiter weg. Er hörte sich an, als würde er vor Wut kochen.
Er drohte sofort. Nichts Einschmeichelndes lag in seinem Ton: »Wenn du irgendwem etwas davon erzählst, leg ich ihn um. Ist das klar? Ein Wort von dir zu irgendwem, und ich flipp aus. Und dann, als Nächstes, greif ich mir deine Mutter und deinen Bruder. Hast du das kapiert?«
Sie wollte »ja« sagen, aber sie bekam das Wort nicht heraus. Ihre Zunge ließ sich nicht bewegen, und etwas schnürte ihren Hals zu.
»Ob du das kapiert hast?!«, fauchte er.
Dann gelang es ihr endlich zu sprechen. »Ja«, sagte sie. Es tat weh im Hals, als hätte sie eine Rasierklinge verschluckt.
»Gut. Wir wollen doch beide nicht, dass noch mehr Mist passiert. Es liegt ganz an dir … Bis morgen Abend«, sagte er und legte auf.
Kann er jetzt schon meine Gedanken lesen, fragte sie sich. Woher wusste er, dass ich genau in diesem Moment über die Sache mit meiner Mutter nachgedacht habe?
Den Rest der Nacht verbrachte sie auf einem Stuhl. Sie saß dort wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Beide Füße auf der Sitzfläche, die Beine mit den Händen umfasst, das Kinn auf die Knie gedrückt.
Sie schwitzte und fror gleichzeitig.
11
Zum Frühstück erschien niemand. Er war ganz allein. Im Rest der Wohnung herrschte geradezu Totenstille. Es kam Leon in den Sinn, dass man so etwas wohl »die Ruhe vor dem Sturm« nannte, denn zweifellos würde der Krach heute weitergehen und unaufhaltsam seinem Höhepunkt entgegenstreben.
Leon duschte und verarztete dann die Abschürfungen an den Knöcheln seiner rechten Hand mit zwei kleinen Pflastern, die er aus dem Allibert-Schrank holte.
Während er das tat, hörte er Trudi schon schimpfen. Es war also vorbei mit der Ruhe. Die Geräusche der Dusche hatten die anderen geweckt.
»Der weiß nicht, was Strom und Wasser kosten!«, keifte Trudi, und Leons Vater rief zurück: »Er hat doch längst aufgehört zu duschen!«
Eigentlich hatte Leon vorgehabt, sich nach dem Duschen einen Kaffee zu machen, vielleicht noch ein Brot zu essen und die Einsamkeit des Morgens zu genießen. Doch jetzt entschied er sich, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Er zog seine Nikes an, griff sich seinen Autoschlüssel und rief: »Ich bin dann weg!«, und fügte noch fast trotzig hinzu: »Zur Arbeit!«
Als er in seinen Fiat stieg, hatte er das Gefühl, in eine andere Rolle zu schlüpfen. Jetzt war er Journalist. Er griff nicht ein in das Geschehen, sondern er berichtete darüber, sah sich etwas an und erzählte seinen Lesern dann davon.
Welch schöner Beruf, dachte er. Das hier heute hatte zwar nichts mit Krimis zu tun, aber er konnte ja in einer Lokalzeitung nicht nur über Kriminalromane berichten.
Leon hatte heute gleich zwei Termine für das »Delmenhorster Kreisblatt« auf seinem Kalender. Aus den USA waren Austauschschüler zu Gast in der Stadt. Sie kamen aus Toledo im Bundesstaat Ohio. Die siebzehn Schüler nahmen am Unterricht im Max-Planck-Gymnasium teil. Sie wurden vom Bürgermeister im Rathaus begrüßt, und er sollte dabei sein, um darüber zu berichten.
Am Nachmittag sollte er in die Gemeinde Hude, weil es dort den »Tag des offenen Hofes« gab. Landwirtschaftliche Betriebe luden das Publikum zu sich ein, und die Erntekönigin wurde erwartet.
Es tat ihm gut, zum Max-Planck-Gymnasium zu fahren und
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