Neongrüne Angst (German Edition)
Schere einen Längsschnitt vom Ende des Brustbeins bis zum Hals ausgeführt. Unterhalb des Manubriums habe ich die Muskulatur dann nach beiden Seiten hin durchschnitten. So.«
Johanna erinnerte sich daran, als sei es gerade erst geschehen. Nein, schlimmer noch, als würde es jetzt passieren.
Sie hatte sich umgedreht und sah die blondgelockte Medizinstudentin, die den Froschversuch an ihrem Walnusseis mit Sahne demonstrierte. Das Nussstückchen sollte wohl das Herz darstellen.
»Man hebt das Manubrium mit der Pinzette hoch und durchtrennt dann die beiden Teile des Schulterblatts und entfernt das Brustbein. Man muss natürlich aufpassen, den Herzbeutel nicht zu beschädigen, sonst muss man einen anderen Frosch verwenden. Der ist dann hinüber. Man kann dann das Herz elektrisch reizen und je größer die Reizstärke, desto mehr zuckt der Muskel. Das funktioniert nicht nur beim Herzen so, sondern auch an den Beinen oder überhaupt bei jedem.«
Die Studenten am Tisch hatten gelacht. Johanna war schlecht geworden. Sie konnte nicht weiteressen, obwohl das Kokoseis hier göttlich war.
»Halt die Fresse, du blöde Kuh!«, hatte sie die Studentin angebrüllt und war dann rausgelaufen, ohne zu bezahlen. Der Keller war hinter ihr hergerannt. Das Ganze war ihr unglaublich peinlich gewesen, und als sie später ihrem Bruder davon erzählte, hatte der sie ausgelacht. Ben meinte, solche Experimente seien ungeheuer wichtig, ja geradezu lebensrettend. Ob sie noch nie etwas davon gehört hätte, dass man einen Menschen durch Stromschläge aufs Herz wieder zurückholt, wenn er schon so gut wie »über den Jordan ist«. Ja, genau so hatte Ben es ausgedrückt.
In ihrer jetzigen Vorstellung war sie dieser Frosch, an dem das Experiment vollzogen wurde, und der Verehrer fixierte sie gerade mit Nadeln auf dem Seziertisch.
Litt sie für eine höhere Sache?
Diente das alles irgendeinem erhabenen Ziel?
Würde man später anderen Menschen helfen können?
War das alles notwendig, um Erkenntnisse zu sammeln?
Sie schüttelte sich und schimpfte: »Ich will das nicht, verdammt nochmal!«
Leon war irritiert, weil sie eine Weile geschwiegen hatte, und jetzt kam dieser Ausbruch. Er sah auf die digitale Uhr, die unten an seinem Computer aufleuchtete.
»Johanna, ich kann nicht sofort kommen, so gerne ich das tun würde. Ich muss erst einen Artikel zu Ende schreiben. Danach komme ich aber. Ganz bestimmt. Wir können uns dann treffen.«
»Nein, können wir nicht«, sagte sie, und ihre Stimme hatte plötzlich einen anderen, strengen, sehr entschlossenen Ton. »Ich muss zu Hause bleiben, bei meiner Mutter. Die kriegt heute Abend Besuch, und ich habe ihr versprochen zu helfen.«
»Dann komme ich eben zu euch.«
»Nein, das geht nicht. Es ist ein Frauenabend. Meine Mutter macht einen Frauenabend.«
Da sie das Wort »Frauenabend« gleich wiederholte, kam es ihm sofort so vor, als würde er angelogen. Er traute sich aber nicht, das zu sagen. Er wusste, wie sie hochgehen konnte, wenn er sie derart bezichtigte.
»Ich muss ja nicht mit den Frauen in einem Raum sein. Wenn sie sich da Geschichten erzählen, die Männer nicht hören sollen, meinetwegen. Aber wir können doch ein bisschen in der Küche sitzen und miteinander reden oder …«
»Es geht nicht, Leon. Morgen. Lass uns morgen noch mal telefonieren.«
Sie verabschiedete sich überstürzt, als müsste sie dieses Gespräch unbedingt sofort beenden.
Leon hackte seinen Artikel mit dem Zwei-Finger-Suchsystem in die Tasten, als hätte er vor, an der Weltmeisterschaft im Maschinenschnellschreiben teilzunehmen.
Er war gar nicht gut. Ständig unterkringelte die Rechtschreibhilfe Tippfehler. Manchmal wiederholten sich die Wörter. Die Sätze kamen ihm unbeholfen und zu lang vor. Atmosphärisch brachte er nicht wirklich rüber, was er sagen wollte. Es gelang ihm nicht, sich auf seinen Artikel zu konzentrieren, und als er ihn dann noch einmal las, stellte er fest, dass er einen grundlegenden Fehler gemacht hatte. Von den sechs W’s, die in jedem Artikel enthalten sein mussten, W er, Wo, Wann, Was, Wie, Warum , hatte er nur vier bedacht. Beim Wer fehlten Namen der Personen, dafür war das Wie besonders ausführlich.
Am liebsten hätte er alles wieder gelöscht und noch einmal von vorne angefangen. Er hatte Angst, dass Ralf Freitag ihm den Artikel so gar nicht abnahm, und er war noch lange nicht mit seiner Arbeit fertig. Das Interview musste noch abgeschrieben und geschliffen werden, denn am Ende
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