Neongrüne Angst (German Edition)
hatte die Erntekönigin ihm ja mehr Fragen gestellt als er ihr.
22
Johanna war schlecht vor Angst. Sie trug ihre Lieblingsjeans und darüber ein schlabbriges T-Shirt, das vom vielen Waschen schon mehr grau als weiß war. Sie knibbelte an dem Tintenfleck am Saum herum, der nie wirklich herausgegangen war.
Die Zeit lief ihr viel zu schnell davon. Noch immer überlegte sie, ob es nicht eine Möglichkeit gab, aus der ganzen Sache herauszukommen.
Sie hörte, dass ihre Mutter im Wohnzimmer saß und sich eine Quizshow ansah, bei der das Publikum ständig Beifall klatschte, wenn jemand die richtige Antwort wusste.
Sie ging gedanklich an allen Menschen vorbei, die überhaupt in Frage kamen. Wen konnte sie um Hilfe bitten? Sie erinnerte sich noch gut an diesen Kommissar Büscher und seine Assistentin Birte Schiller. Wenn überhaupt, dann hätte sie sich an Frau Schiller gewendet. Aber sobald sie sich in die Situation hineinversetzte, erklären zu müssen, was geschehen war, kam sie sich selbst unglaubwürdig vor, und ihr brach augenblicklich der Schweiß aus.
Wenn die Polizei mir glaubt, dachte sie, was könnten die überhaupt tun? Die gesamte Bürgermeister-Smidt-Straße überwachen? Jeden verhaften, der da rumläuft? Selbst wenn die Polizei mir Glauben schenken würde und alle Mittel in Bewegung setzt, es könnte mir doch damit überhaupt nicht geholfen werden. Er würde höchstens wütend werden und wieder etwas Schlimmes tun.
Die Mutter wirkte wenig belastbar auf Johanna. Sie freute sich nicht an ihrem Leben, war in Gedanken oft anderswo.
Und Ben? Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr kam sie zu dem Ergebnis, dass sie und ihr Bruder sich nicht sehr nah waren. Viel zu lange hatten sie gegeneinander um die Aufmerksamkeit der Eltern gerungen. Immer wieder war es darum gegangen, wer das schönere Bild malte, die besseren Schulnoten hatte – jeder hatte versucht, den anderen auszustechen und bei den Eltern zu punkten.
In letzter Zeit hatte sich das Ganze umgedreht. Die Mutter bezeichnete sich selbst als »alleinerziehend«, und weder Ben noch Johanna gaben sich große Mühe, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Das war jetzt ihr Part. Neuerdings lief sie hinter den Kindern her, wollte Anerkennung als gute Mutter bekommen und bemühte sich, ihnen eher eine gute Freundin zu sein als eine gute Mutter. Aber zu viel war schiefgelaufen in den letzten Jahren.
Johanna erinnerte sich an einen Lehrer, den sie sehr gemocht hatte. Herrn Stindl. Mit seinen weißen Haaren und dem weißen Bart sah er aus wie John Long Silver, wie sie ihn aus einer Schwarzweiß-Verfilmung der »Schatzinsel« kannte. Er hatte so eine ruhige Art, wenn er über Probleme sprach, begannen sie zu schrumpfen, verloren das Furchterregende, und gleichzeitig teilte er dann alles in mindestens drei Teile. Jedes einzelne Teil war dann nicht mehr so gefährlich.
Sie wog ab, was dagegen sprach, ihn anzurufen. Sie hatte ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Später dann, in einem Musical, lief ein Leuchtturmwärter herum, der ihm sehr ähnlich sah. Bis heute war sie sich nicht sicher, ob er diesen Leuchtturmwärter damals gespielt hatte oder nicht. Sie forschte nach, und das Musical war tatsächlich in Bremerhaven für den KiKa aufgenommen worden. Deutlich erkannte sie die Astarte als Schiff der Piraten.
Es tat gut, jetzt daran zu denken. An etwas Heiles, das wärmte. Etwas, das nicht böse war und von dem keine Gefahr ausging.
Aus einem Impuls heraus suchte sie seine Telefonnummer und wählte sie augenblicklich an. Sie wusste, dass sie sich nicht viel Zeit zum Nachdenken geben durfte, dann würden Zweifel kommen, dann würde sie doch nicht mehr mit ihm sprechen wollen. Sich genieren oder …
Schon nach dem zweiten Klingeln ging jemand dran. Es war seine Frau.
»Hildegard Stindl.«
Die Stimme klang so, dass Johanna sich gleich gut und aufgehoben fühlte. Da war keine Kälte, nichts Abweisendes.
»Kann ich … darf ich … ich würde gern Ihren Mann sprechen. Ich bin eine ehemalige Schülerin.«
Hildegard Stindl schien sich gar nicht gestört zu fühlen. »Ach, da müssen Sie in ein paar Tagen noch mal anrufen. Kann ich meinem Mann denn etwas ausrichten? Er ist im Moment mit ehemaligen Schülern in Barcelona.«
»W … wann kommt er denn wieder?«
»In drei Tagen; wenn alles gutgeht, ist er spätabends zu Hause. Vielleicht versuchen Sie es dann am nächsten Morgen.«
Johanna bedankte sich und wusste gleichzeitig, dass sie nicht den Mut haben
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