Neongrüne Angst (German Edition)
unübersichtlichen Chaos.
Endlich war sie bei der Kirche. Ihr Atem rasselte. Sie sah sich um. Da drüben studierte ein Pärchen das Schaufenster der Buchhandlung. Kaum zu glauben, dass der Anrufer hier mit einer Frau spazieren ging.
Nein, es musste eine einzelne Person sein. Vielleicht war er auch nicht direkt auf der Straße, sondern irgendwo auf einem Dach, hinter einem Fenster.
Er hatte von ihr verlangt, sie sollte in der Mitte der Straße gehen, und genau das tat sie jetzt auch, obwohl ein sanfter Nieselregen die wenigen Menschen veranlasste, nach links und rechts zu gehen, wo Arkaden aus Acrylglas sie vor Regen schützten.
Komisch, dachte Johanna. Er hat gesagt, ich soll zur großen Kirche gehen. Aber er sagte, Bürgermeister-Smidt-Straße. Das passt doch gar nicht zusammen. Große Kirche sagen die Einheimischen. Leute von außerhalb nennen sie die Gedächtniskirche . Und die Bürgermeister-Smidt-Straße nennen wir einfach Bürger.
Sie war sich sicher, er hatte diese Straße mehrfach Bürgermeister-Smidt-Straße genannt.
Ist der jetzt von hier oder nicht?
Sagt er das, um mich zu irritieren?
Ist das sein Plan?
Gehört das mit dazu?
Will er mich verrückt machen?
Weiß er genau, dass ich mich jetzt frage, ob er von außerhalb kommt?
Will er, dass ich jedes seiner Worte auf die Goldwaage lege?
Ihm genau zuhöre?
Ist das sein Ziel?
Erst jetzt, da sie in der Mitte der Straße ganz allein spazieren ging, wurde ihr bewusst, wie breit und lang die Bürgermeister-Smidt-Straße wirklich war. Bestens geeignet für große Demonstrationen, Umzüge oder Militärparaden. Schnurgerade zog sich die Einkaufsmeile vom Theodor-Heuss-Platz bis zum Kaiserhafen. Nicht alle Einheimischen nannten diese Hauptachse der Innenstadt liebevoll Bürger. Treffen wir uns auf der Bürger? Ein paar coole Jungs aus der Elf nannten sie spaßeshalber Stalinallee , wohl, weil sie in Moskau eine ähnlich breite Straße kannten, die auch für den Autoverkehr gesperrt war.
Verstecken sich in seiner Sprache noch mehr Geheimnisse?, fragte sie sich.
Es waren nicht viele Leute auf der Straße, aber da sie in der Mitte ging, erregte sie trotzdem deren Aufmerksamkeit. Noch nie waren ihr ihre Schritte so laut vorgekommen. Sie schienen zu hallen, als ob die ganze Straße ein riesiger Vibrationsboden wäre.
Die Schaufenster der meisten Geschäfte waren noch beleuchtet. In einem Imbiss wurde gerade saubergemacht, und dort drüben am Café arbeitete ein Fensterputzer auf der Leiter die Versäumnisse des Tages ab.
Er hätte sogar in einem der Geschäfte sein können, um sie durch die Scheibe zu beobachten. Vielleicht war er hier irgendwo angestellt, gehörte zu einer Reinigungstruppe, wie dieser Fensterputzer. Oder … sie traute ihm auch zu, einfach eingebrochen zu sein. Irgendwo, von wo aus er eine gute Aussicht hatte. Er wusste genau, warum er sie hierhinbeordert hatte. Es gab tausend Möglichkeiten, sie zu beobachten.
Sie hielt das Handy, wie er ihr befohlen hatte, in der rechten Hand, wechselte jetzt aber in die linke, denn die rechte war so schweißnass, dass sie befürchtete, die Feuchtigkeit könne ins Gerät dringen und die Elektronik zerstören. Diese Handys waren ja äußerst anfällig für Feuchtigkeit. Zwei Handys hatte sie durch Wassereinwirkung verloren. Einmal ihr eigenes, es war ihr beim Absteigen vom Fahrrad in eine Pfütze gefallen, und einmal eins von Ben. Sie hatte es mit zur Toilette genommen, um seine SMS zu checken. Ja, das war nicht ganz in Ordnung von ihr gewesen, und sie hätte selbst nicht mehr erklären können, welcher Teufel sie damals geritten hatte, aber die Strafe folgte ja auf dem Fuß. Das Handy fiel ihr in die Toilette und war kaputt. Zum Glück hatte Ben niemals herausbekommen, wer für den Verlust seines Handys verantwortlich war. Er hatte sie im Verdacht, aber ihm fehlte jeder Beweis.
Was soll ich machen, wenn das Handy vibriert? Werde ich wirklich meinen Mantel öffnen?
Sie hatte ihn im Moment mit einem Reißverschluss und zwei Druckknöpfen geschlossen. Sie wäre in der Lage, die Knöpfe mit einer einzigen Handbewegung zu öffnen und dann den Reißverschluss bis nach unten zu ziehen.
Was mache ich? Werde ich das wirklich tun? Und dann? Dann öffne ich den Mantel? Er will mich so sehen, das ist ja klar. Aber warum mitten auf der Straße? Wie werden die anderen Menschen reagieren? Was, wenn mich jemand anspricht? Vielleicht glauben die, ich sei betrunken oder ich hätte Drogen genommen. Was, wenn jemand
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