Neongrüne Angst (German Edition)
würde, noch jemand anderen anzurufen. Das Schlimme war, wenn der Täter sie einfach bedroht hätte, wäre es ihr möglich gewesen, anderen davon zu berichten. Aber was er von ihr verlangte, war so durchgeknallt. Sie konnte ihrem Freund doch nicht erzählen, dass sie nachts einfach so über die Bürgermeister-Smidt-Straße gehen sollte. Das alles war doch nur völlig irre.
Plötzlich zweifelte sie auch daran, dass sie in der Lage gewesen wäre, ihrem ehemaligen Grundschullehrer Rolf Stindl davon zu erzählen.
Es war jetzt 21.45 Uhr. Sie hatte nur noch fünfzehn Minuten. Und sie entschied sich zu tun, was der Verehrer von ihr verlangt hatte.
Sie holte ihren hellen Sommermantel aus dem Schrank.
Er weiß, dass ich dieses Teil besitze, und er weiß, dass ich es lange nicht getragen habe. Im letzten Sommer überhaupt nicht. Vor zwei Jahren hatte ich es zum letzten Mal an. Er muss mich also mindestens so lange kennen und mich irgendwann darin gesehen haben. Ich mochte das Ding noch nie, dachte Johanna, und inzwischen ist es mir viel zu klein geworden. Warum habe ich es nicht längst auf dem Flohmarkt verkauft?
Es fiel ihr schwer, sich auszuziehen. Ihre Finger waren plötzlich so dick und unbeweglich, dass sie den Knopf an der Jeans damit gar nicht aufbekam. Sie fürchtete außerdem, beim Rausgehen von ihrem Bruder oder ihrer Mutter angesprochen zu werden.
Um Himmels willen, was, wenn die mitbekämen, dass sie unter dem Mantel nackt war? Bestimmt würden sie sie auf diesen Mantel anquatschen. Sie trug ihn doch sonst nie.
Ben würde sofort merken, dass etwas nicht stimmte, denn unten aus dem Mantel ragten ja ihre nackten Beine heraus. Bei anderen Mädchen, wie Jessy, war so etwas nichts Besonderes, doch sie trug fast nie Röcke und so kurze wie Jessy schon mal gar nicht.
Sie sah schon ihren kreischenden Bruder vor sich. »Oh, was ist los? Ist unsere Johanna verliebt? Sie hat sich einen scharfen Mini angezogen! Mach mal den Mantel auf! Zeig mal! Wie siehst du denn aus? Überhaupt, wo willst du um die Zeit hin?«
Sie wog ab, was dagegensprach, in voller Kleidung aus dem Haus zu gehen und sich dann irgendwo anders umzuziehen. Aber wo? In einem Häusereingang oder einem Flur aus den Klamotten zu schlüpfen, die dann dort zu deponieren, um sie später wieder abzuholen, das kam ihr noch unwürdiger vor.
Sie tat, was der Verehrer von ihr verlangt hatte. Sie zog sich aus und packte die Wäsche in eine Plastiktüte. Einen Sport-BH und einen Slip behielt sie an. Das muss reichen, dachte sie trotzig. Schließlich trug sie ja auch Schuhe.
Kaum an der frischen Luft, hatte sie Angst, zu spät zu kommen, und rannte los. Sie wollte nicht wieder dafür verantwortlich sein, dass Menschen starben. Nicht noch einmal …
Zwei Minuten vor 22 Uhr erreichte sie den Theodor-Heuss-Platz. Vor dem Theatercafé Da Capo stand gestikulierend eine Gruppe junger Menschen, die sich über ein Theaterstück unterhielten.
Um Himmels willen! War das da hinten Jessy Schmidt, die so affektiert mit den Händen in der Luft herumwedelte? Natürlich. Jessy, die bestimmt irgendwann mal den Oscar bekommen würde und die sich jedes Theaterstück ansah, um danach vor allen Dingen über die Hauptdarstellerinnen herzuziehen, denn sie selbst hätte der Rolle natürlich viel mehr Charakter und Gefühl gegeben als diese nuschelnden Kretins.
Johanna lief in Richtung Kirche. Sie kam an der Brunnenskulptur »Bugwelle von Bremerhaven« vorbei. Es war, als würde sie von der weiblichen Galionsfigur geradezu begrüßt werden. Sie neigte sich aus ein paar Metern Höhe zu ihr herunter und hielt ihr die Hand entgegen.
Am liebsten hätte Johanna die Hand der Figur genommen. Sie verstand die Symbolik nicht ganz. Warum hing diese junge Frau am Schiffsbug? Unter ihr teilten sich die Wellen. Warnte die Figur die Menschen, oder sollte sie sie willkommen heißen? Floh sie in Richtung Theater und Kunstmuseum, oder wurde sie auf dem Meer von einem unbekannten Ungeheuer verfolgt und versuchte nur, ihr Leben zu retten?
Gerade noch hatte sich Johanna als Sezierfrosch gefühlt, jetzt wurde sie eins mit dieser Galionsfigur. Es kam ihr vor, als würde ihre Seele ständig versuchen, in etwas anderes zu schlüpfen, Hauptsache, sie brauchte nicht in ihr zu sein. Aus jeder anderen Sicht schien alles viel deutlicher, viel erklärbarer, ja, einen Sinn abzugeben. Nur wenn sie ganz bewusst in sich selbst steckte und mit ihren eigenen Augen die Welt sah, dann stand sie in einem
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