Neongrüne Angst (German Edition)
zu mir hinkommt? Oder noch schlimmer, was mache ich, wenn ein Mann auf mich zukommt, weil er denkt, ich mache das für ihn?
Sie legte die rechte Hand auf ihre Brust und versuchte, die Atmung unter Kontrolle zu halten. Auf keinen Fall wieder falsch atmen!
Sie stellte sich das schrecklich vor, hier japsend auf der Straße zusammenzubrechen und Hilfe zu benötigen. Jeder konnte dann sehen, dass sie unter dem Mantel nichts anhatte, und sich etwas dabei denken. Viele würden sie wahrscheinlich einfach für eine Prostituierte halten, dachte sie. Oh mein Gott …
Sie wollte nur noch weg. Einfach rennen. Aber gleichzeitig schritt sie weiter in der Mitte der Straße, so wie er es befohlen hatte.
Sie begann zu schwitzen. Die Regentropfen kamen ihr vor, als würde der Himmel weinen über die Ungerechtigkeit, die ihr gerade geschah.
Sie schützte das Handy nun mit beiden Händen vor dem Regen und sah auf das Display, ob das Gerät überhaupt noch funktionierte. Es war schon sechs Minuten nach 22 Uhr. Warum meldete er sich nicht? Hatte sie etwas falsch gemacht? Was, wenn er überhaupt nicht anrufen würde? Wollte er nur sehen, ob er wirklich in der Lage war, sie dazu zu bringen hierherzukommen?
Und wenn Leon recht hatte und der Anrufer tat überhaupt nichts Böses, sondern hängte sich einfach an die üblichen, gruseligen Zeitungsmeldungen, um ihr Angst zu machen?
Vielleicht war es ja auch nicht nur ein Verehrer, sondern eine ganze Gruppe von Jungs, die sich einen Spaß daraus machten, sie auf die Schippe zu nehmen. Lauerten die jetzt hier hinter einer Scheibe mit ihren Digicams und Smartphones, um sie zu filmen, wenn sie ihren Mantel öffnete? Landete das Ganze danach als Riesenspaß im Internet? Am besten noch garniert mit den Telefongesprächen, mit denen sie dazu gebracht worden war? War der Anrufer gar nicht der gnadenlose Killer, der er zu sein vorgab, sondern nichts weiter als ein verstörtes Jüngelchen, das sich auf ihre Kosten einen Scherz machen wollte?
In diesem Moment vibrierte ihr Handy.
23
Natürlich war es nicht nötig, die Berichte heute Nacht fertigzustellen. Die Zeitung war längst im Druck. Doch Leon hatte seinem Chefredakteur versprochen, ihm morgen früh um neun alles auf den Tisch zu legen. Er wollte die Texte gegenlesen und mit Leon besprechen.
Leon spürte, dass Ralf Freitag ihn ernst nahm und förderte. Er wollte ihn nicht enttäuschen. Und heute war Leon wirklich grauenhaft schlecht.
Er rief bei den Fischers an, um noch einmal mit Johanna zu reden. Ben ging dran, meldete sich mit einem »Hmm«, unterlegt mit Schmatzen.
Leon kannte das. Wenn Ben in Computerspiele vertieft war, musste er immer kauen. Um nicht völlig aus den Nähten zu platzen, war er von Schokoriegeln und Chips zu Kaugummi übergegangen, wobei er fast mechanisch große Blasen produzierte und zerplatzen ließ.
Aus den Zeiten, als sie sich noch näherstanden und Leon manchmal gemeinsam mit Ben am Computer gesessen hatte, wusste Leon, dass Ben Kaugummiblasen produzierte, wie andere Menschen atmeten. Es war ein beständiger Rhythmus. Zwanzig bis fünfundzwanzig Kaubewegungen, dann ein Schlucken, tiefes Schnaufen und schließlich kam die Blase, bis sie platzte. Manchmal klebte das Gummi an den kleinen Härchen über seiner Lippe fest, wo sich ein Bartwuchs andeutete, aber zu Bens Verärgerung nicht heftig genug war, um als Bart durchzugehen, sondern nicht mehr war als ein mädchenhafter Flaum.
»Ben, hier ist Leon.«
»Moin.«
»Kann ich mit Johanna sprechen?«
»Wieso rufst du nicht auf dem Handy an?«
»Ja, ich dachte … Ist sie denn nicht zu Hause?«
»Weiß nicht.«
»Guck doch mal nach.«
»Boah, äi, du nervst! Könnt ihr eure Liebesffären nicht ohne mich klären?«
»Mensch, stell dich doch nicht so an!«
Eine Kaugummiblase ploppte. Dann maulte Ben: »Is ja schon gut. Ich bin im fünften Level, Mann! Ich muss mich konzentrieren.«
Leon hörte Ben durch die Wohnung tapsen. »Äi, Lästerscherz! Ich meine, Schwesterherz! Dein Macker ist am Telefon!«
Leon wollte sich durch Bens Sprüche nicht provozieren lassen.
Eine Tür quietschte. Dann sagte Ben: »Sie ist nicht hier.«
»Warst du in ihrem Zimmer?«
»Ja, und zwar ohne anzuklopfen. Wenn sie hier wäre, hättest du den Schrei gehört.« Er äffte sie nach: »Wehe, du kommst noch mal hier rein, ohne anzuklopfen!!!«
»Ist denn bei euch kein Frauenabend?«
Ben lachte. »Ach, ich verstehe! Das ist ein Kontrollanruf! Ich wusste gar nicht, dass du so ein
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