Neongrüne Angst (German Edition)
hier gesehen. Sie rauchten und tranken den ganzen Tag, als sei das Leben ein Wettbewerb, wem es zuerst gelang, seine Lunge und seine Leber zu zerstören.
Endlich hatte sie die Gruppe um Jessy hinter sich gelassen, doch durch ihr Rennen und die Rufe der Betrunkenen waren sie aufmerksam geworden.
Es war Jessy, die ihren Namen rief: »Johanna? Johanna? Warum rennst du denn so?«
Einer der Jungs sagte: »Hat die was an den Augen? Wieso trägt die ’ne Sonnenbrille, um diese Tageszeit?«
Johanna lief auf die Brunnenskulptur zu. Am liebsten wäre sie zu dem bronzenen Mädchen am Schiffsbug geworden. Die war an die Blicke der Menschen gewöhnt und aus so hartem Material, dass Wind und Wetter ihr nichts anhaben konnten. Auf ihre eigene Art unverletzlich.
Johanna drehte sich nicht nach Jessy und ihren Freunden um. Sie vermutete auch Tobias Zenk in der Gruppe, hatte ihn aber nicht wirklich gesehen. Was jetzt viel wichtiger war: Sie musste wieder genau in die Mitte der Straße und dann einen Fuß vor den anderen setzen. Genau so, wie der Verehrer es von ihr verlangt hatte.
Sie hoffte, ihn nicht verärgert zu haben. Sie legte die Hand auf die Manteltasche und fühlte nach dem Handy. Es war noch da, aber es bewegte sich nicht.
Ganz nah an der Skulptur stand jetzt ein Mann. Es sah fast so aus, als würde er gegen den Schiffsbug pinkeln, aber so war es nicht. Er tippte nur eine SMS in sein iPhone. Oder filmte er von da aus Johanna? Musste sie damit rechnen, sich bald im Internet wiederzufinden? Auf YouTube?
25
Leon fuhr viel zu schnell über die A 27. Auf der Höhe von Wulsbüttel war eine Baustelle und die Fahrbahn nur einspurig befahrbar. Hier hätte er eigentlich nur sechzig fahren dürfen, doch er konnte im Moment keine Verordnung befolgen, die ihn nur daran hinderte, Johanna zu helfen.
Er war sonst überhaupt nicht so ein Autofahrer, aber jetzt war ihm alles egal.
Er presste die Hände fest auf das Lenkrad, fuhr mit lang ausgestreckten Armen, drückte seinen Rücken hart gegen den Fahrersitz, so als bräuchte er diesen Widerstand, um sich selbst zu spüren.
Als es wieder zweispurig wurde, fuhr er den Wagen voll aus. Die Kiste hatte mehr Power in sich, als er dachte.
Vor ihm tuckerte ein BMW der 5-er Serie gemächlich mit hundertzwanzig dahin. Zum ersten Mal in seinem Leben scheuchte Leon jemanden mit der Lichthupe von der linken auf die rechte Spur.
Als er den Wagen dann überholte, sah er im Innenraum einen gut sechzig Jahre alten Herrn, der ihm den Stinkefinger zeigte. In besseren Situationen hätte Leon sich bei ihm entschuldigt oder wäre erst gar nicht in so eine Lage gekommen, aber jetzt gab er einfach nur noch Gas.
Kurz hinter der Ausfahrt Bremerhaven-Mitte wurde er geblitzt. Er fand es ungerecht, so als hätte sich alles gegen ihn verschworen. Und diese Radaranlage war der Gipfel des Ganzen. In seiner Phantasie stellte er sich vor, zurückzufahren und das Ding abzumontieren und dann in der Nordsee zu versenken. Er wusste, dass er es nicht tun würde, aber er hatte solche Gefühle, und er gestand sie sich jetzt ein.
Während die Gefühle in ihm Achterbahn fuhren und er auf dem besten Weg war, sich zum Brüllaffen mit Führerschein zurückzuentwickeln, benannte sein Verstand sehr deutlich, was passierte.
Weil du nicht in der Lage bist, deine Freundin zu schützen, und sie zum Spielball eines Psychopathen wird, würdest du jetzt am liebsten deine Wut an dem Blitzer auslassen.
Er fuhr immer noch über dem Tempolimit, aber nur noch zehn, zwanzig Stundenkilometer mehr als erlaubt. Jetzt, da er in Bremerhaven war und die Stadt von Delmenhorst aus in der Rekordzeit von achtundvierzig Minuten erreicht hatte, wurde ihm erst wirklich bewusst, dass er gar keine Ahnung hatte, wo er Johanna suchen sollte. In den Kriminalromanen seiner Mutter gab es manchmal Kommissare, die so etwas hatten wie eine Intuition, den richtigen Riecher. Ihm, der immer die Naturwissenschaften geliebt hatte, schien so etwas jetzt sehr erstrebenswert, denn er fürchtete, mit Logik, Vernunft und Klarheit im Denken nicht weiterzukommen.
Er hatte es mit etwas Irrationalem zu tun. Etwas Unberechenbarem. Vielleicht war es gerade deswegen so furchterregend. Es ließ sich nicht vorausberechnen, was dieser Wahnsinnige als Nächstes vorhatte.
Wohin lockte er Johanna diesmal?
Weil ihm jede Intuition fehlte und er gar nicht richtig wusste, was das Wort überhaupt bedeuten sollte, kam er sich fast ein bisschen behindert vor.
Noch einmal versuchte
Weitere Kostenlose Bücher