Neongrüne Angst (German Edition)
feststeckten, flatterten erschrocken hoch. Die einzige Antwort, die er bekam, war das Brüllen eines Eisbären.
Der Himmel war klar, und die Sterne funkelten, als sei jeder einzelne aus der Sonne herausgesprengt worden.
Wenn es wirklich so etwas gab wie Intuition, dann meldete die sich gerade bei ihm. Es war mehr als eine Ahnung, eher ein tiefes Wissen, das aus dem Inneren des Körpers aufstieg, so wie man wusste, dass ein Gewitter naht oder dass man morgens wieder wach wird, wenn man sich abends schlafen legt.
Vielleicht waren es die Sterne, vielleicht das Brüllen des Eisbären. Irgendwoher empfing er ein Signal, das ihm sagte: Sie ist im Zoo.
Die letzten Gäste verließen nach einem guten Fischessen die Seute Deern . Ein großes Stück Pizza fiel ihnen vor die Füße, und sie lachten schallend. Eine Frau, die ihren Rock festhielt, weil der Wind auf der Brücke von unten zu kommen schien, rief nach oben zur Möwe: »Danke schön! Das ist aber nett von dir! Wir sind schon satt!«
Sie machten einen kleinen Spaziergang über den Weserdeich zur Strandhalle. Hinter ihnen holte sich die Möwe das verlorene Pizzastück zurück.
Leon lief auf die Zoomauern zu. Auf einem Grasstück davor saß mindestens ein Dutzend Kaninchen. Sie hielten eine Versammlung ab und waren sehr mit sich und ihren Problemen beschäftigt. Sie hockten im Kreis, die Schnuppernasen einander zugewandt, die Ohren hoch aufgerichtet. Als Leon auf sie zulief, stoben sie auseinander und flohen in verschiedene Richtungen.
Aber er wollte keine Kaninchen fangen, sondern in den nächtlichen Zoo.
Noch einmal schrie er: Johannaaa!», aber diesmal gaben nur Möwen schnatternd Antwort.
Die letzten Gäste der Seuten Deern sahen Leons Versuch, in den Zoo einzudringen. Die junge Frau rief: »Hey, hey, hey! Was macht der denn da?« Ihr Begleiter machte sogar ein Handyfoto, die anderen diskutierten, ob es sinnvoll sei, die Polizei zu rufen, oder ob man sich da besser heraushalten müsse.
Leon kraxelte an der Mauer hoch und bedauerte jetzt, dass er nicht öfter an einer Kletterwand trainiert hatte. Johannas Bruder Ben war mal ganz verrückt darauf gewesen und hatte ihn mehrfach eingeladen. Zum Indoor-Klettern fuhr er extra nach Bremen oder Hamburg.
Leon hatte sich damals als »Flachlandtiroler« bezeichnet, der für so etwas überhaupt keinen Nerv hatte.
Er blieb an einem Draht hängen, und das rechte Hosenbein riss auf. Dann sprang er runter. Es war nicht viel mehr als ein Sprung im Schwimmbad ins Wasserbecken hinein, aber das Fallen kam ihm endlos vor.
Phantasiebilder jagten durch seinen Kopf. Er kam mitten im Puma-Gehege auf, und die verspeisten nicht nur gern Hirsche.
Aber dann schmerzte doch nur sein linkes Sprunggelenk, und sein Hintern fühlte sich an, als hätte ihm jemand mit Anlauf hineingetreten.
Er stand auf und humpelte ein paar Schritte, dann wurde ihm klar, dass er sich in einer anderen Welt befand. Ein Zoo bei Nacht in der Großstadt hat eine völlig eigene Geräuschkulisse. Da war kein Straßenlärm mehr. Autos existierten nicht. Aber ein eigenartiges, konstantes Fauchen, wie vom Wind an einer scharfen Ecke oder von einer defekten Belüftungsanlage. Schreie, nichtmenschlich, aber doch auch nicht klar einem Tier zuzuordnen, wie ein Wehklagen gegen den nächtlichen Himmel.
Leon fühlte sich beobachtet, ja belauert. Er stand ganz ruhig im Schutz einer Mauer und lauschte in die Nacht. Er versuchte, aus den Geräuschen Schritte herauszufiltern oder menschliche Stimmen. Aber da war nichts dergleichen. Nur ein Schnattern, wie von Gänsen, näherte sich.
Noch einmal brüllte er, so laut er konnte: »Johaaanaaaa!«
Danach war es ganz still, als hätte er alle Tiere um Ruhe gebeten.
Schon nach wenigen Sekunden erschien ihm die Stille beängstigend. War das hier die Ruhe vor dem Sturm?
Dann antwortete ihm wieder der Eisbär. Ihm folgte ein Konzert von Tierstimmen, das wellenförmig anhob und wieder abebbte.
Leon glaubte, darin einen Rhythmus zu erkennen. Gab es eine geheime Tiersprache, in der sie sich alle miteinander verständigten?
28
Johanna blieb noch eine Weile in dem dunklen Flur an die Wand gelehnt stehen und atmete, so gut es ging, in den Bauch. Es kam ihr vor, als hätte sie eine halbe Stunde dort gestanden, doch es waren nur wenige Minuten. Als sie das Haus verließ, lief sie direkt in die Arme ihres Verfolgers.
Er sah ihr verheultes Gesicht, und als sie flehte: »Bitte! Ich hab schon Schwierigkeiten genug! Lassen Sie mich
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