Neongrüne Angst (German Edition)
verrückt?«
Sie drückte das Gespräch weg und warf das Handy zwanzig Meter weit in Bens Richtung. Der fing es aus der Luft auf. Es krachte in seine Hand und tat richtig weh, aber viele Leute hatten dabei zugesehen, und dies hier war eine Chance für ihn, einen mächtig coolen Eindruck zu hinterlassen.
Johanna lief zur Toilette und heulte. Es gab auch eine Stimme in ihr, die ihr riet, Leon anzurufen und ihn um Verzeihung zu bitten. Immerhin hatte er die Nacht vor ihrer Tür verbracht … Aber auch das konnte man so oder so deuten.
Leon war kaum in der Lage, sich richtig von Megan Black zu verabschieden, so sehr hatte ihn das Gespräch mit Johanna getroffen. Er lief in die Redaktion zurück und sah nicht, dass sie ihm hinter seinem Rücken den Stinkefinger zeigte.
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Es gefiel Johanna gar nicht, mit wem ihr Bruder Ben in letzter Zeit so herumhing. Vielleicht waren diese Leute im Grunde ja schon früher seine Freunde gewesen, und erst jetzt stieß es ihr übel auf. Überhaupt betrachtete sie die Beziehungen der Menschen untereinander kritischer als sonst. Sie versuchte, Gruppen zu erkennen, Fraktionskämpfe, Intrigen, Cliquenbildungen – von alldem fühlte sie sich bedroht.
In ihrer Vorstellung machte sich ein Grüppchen einen Spaß daraus, sie zur Idiotin zu machen oder in den Wahnsinn zu treiben.
Sie wollen gucken, wie weit sie gehen können, dachte Johanna, und sie amüsieren sich über mich. Es ist ein schlimmes, ein grausames Spiel, und ich werde es beenden, sobald ich kann.
Sie wusste nicht, was sie schlimmer fand: eine Schülergruppe, die ein Spielchen mit ihr trieb, oder einen wirklichen Psychopathen, der tatsächlich Menschen umbrachte und Autounfälle provozierte.
Sie schämte sich, weil sie mit Leon so grob umgegangen war. Wie musste er sich fühlen, wenn sie ihn verdächtigte? Überhaupt, wie kam es bei den anderen an, dass sie nur noch misstrauisch war, aggressiv und sich immer mehr von allen zurückzog?
Ich habe Leon so sehr unrecht getan, dachte sie. Verdammt, wie komme ich aus der Nummer wieder raus? Ich muss mit ihm reden.
Gleichzeitig fürchtete sie sich davor. Wie sollte sie ihm klarmachen, warum sie seine Nummer gesperrt hatte, ohne ihn zu beleidigen?
Das alles wuchs ihr über den Kopf. Es sollte nur noch aufhören.
Sie bat ihren Klassenkameraden Stefan um sein iPad. Viele hielten Stefan für schwul, weil er noch nie eine Freundin gehabt hatte und manchmal sehr weiblich wirkte. Sie fand ihn angenehm unaggressiv und hilfsbereit.
Sie suchte auf dem Onlineportal der Nordsee-Zeitung und dann bei n-tv schlechte Nachrichten.
Die Schüsse auf der Danziger Straße konnten es nicht sein. Das war für den Flüsterer zu klein.
Das Feuer auf dem Frachtschiff?
Die Explosion im Einfamilienhaus?
Für einen Moment überlegte sie, von Stefans iPad aus eine E-Mail an Leon zu schreiben und ihn um Verzeihung zu bitten. Sie fand es höchst unwahrscheinlich, dass dieser Nachrichtenweg von ihrem Verehrer kontrolliert werden konnte.
Ihr Deutschlehrer war gerade bei seinem Lieblingsthema: die Schwarze Serie von Kriminalromanen in den USA. Dashiell Hammett, Cornell Woolrich, Raymond Chandler und die Struktur des Hardboiled-Krimis , wie er es nannte.
Während er darüber sprach, leuchteten seine Augen, als hätte er soeben das Paradies betreten und beschlossen, es nie wieder zu verlassen.
Wie schön muss es sein, dachte sie, sich mit anderen Themen beschäftigen zu können als nur mit sich selbst und der eigenen Angst. Welch wunderbares Gefühl, ein Buch lesen zu können, es mit einem anderen zu vergleichen, einen Krimi spannend zu finden, einen anderen langweilig. Eine Geschichte aus der Perspektive anderer betrachten zu können, eine neue, andere Sicht auf das Leben zu bekommen.
Bis vor kurzem kannte sie selbst solche Genüsse. Sie hörte sogar Hörspiele im Radio. Aber jetzt war sie ganz eingeschlossen in etwas, das sie ständig um sie selbst drehen ließ, hatte immer Angst vor dem nächsten Anruf und dem nächsten Panikschub.
Sie war eine Getriebene geworden, die sich nicht mehr ruhig zurücklegen konnte, um sich in ein fremdes Abenteuer entführen zu lassen, sondern immer nur den Schrecken der nächsten Stunden vorausberechnete. Was könnte als Nächstes geschehen?
In dem Moment vibrierte ihr Handy.
Sie sagte Herrn Stoppel, ihr sei nicht gut. Er nickte ihr freundlich zu, als sie zur Toilette verschwand. So, wie sie aussah, hätte er sie ohnehin am liebsten nach Hause geschickt.
Er war es
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