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Neonträume: Roman (German Edition)

Neonträume: Roman (German Edition)

Titel: Neonträume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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Patriarchenteichen. Wir trinken Wein. Ich stochere lustlos mit der Gabel in meinem Rucolasalat und grübele darüber nach, warum Katja nicht anruft. Will sie mich loswerden? Irgendwie kompliziert alles.
    Lena traktiert mich schon seit einer Dreiviertelstunde mit den aufregenden Details ihrer letzten Buchprüfung bei einer russischen Baufirma. Von weitem sehe ich wahrscheinlich aus wie eine lobotomierte Ratte: unmotiviertes, dafür umso heftigeres Stirnrunzeln, rhythmisches Kopfnicken, unregelmäßig ausgestoßene Laute, die spöttische Zustimmung, anteilnehmenden Zweifel oder solidarische Empörung ausdrücken könnten, während mein Hirn sich vergeblich bemüht, sich in dem Nebel dieses Wirtschaftslateins auch nur halbwegs zurechtzufinden. Das Einzige, was zu mir rüberkommt, ist, dass diese Firma einen Großteil ihres Geschäftes » weiß machen« und in Einklang mit westlichen Anforderungen bringen will. Dummerweise herrscht in dem Betrieb bisher ein einziger Saustall: Die Finanzbuchhaltung ist undurchsichtig, der Profit befindet sich im freien Fall, die Angestellten klauen. Also im Grunde Business as usual, das heißt, mehr als beschissen, wie bei der Mehrheit der russischen Unternehmen. Aber um das zu begreifen, braucht man keine Spezialausbildung wie Lena. Man muss nur ein paar Wochenenden in Nobellokalen wie der » Brücke« oder dem Djaghilew verbringen. Wenn man sieht, wie fieberhaft und gleichzeitig anspruchslos die heutigen russischen Goldgräber ihr Kapital verjubeln, weiß man, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Die Karten werden neu gemischt.
    Lena hat sich dermaßen in ihren Vortrag hineingesteigert, dass sie von mir, Gott sei Dank, gar keine sinnvollen Reaktionen mehr erwartet. Aber wie denn auch: Als Top-Manager bei Wal-Mart, zu dem ich gerade wieder mutiert bin, muss ich sie natürlich quasi im Halbschlaf verstehen. Also gebe ich nur dann und wann nur noch ein teilnehmendes Geräusch von mir, während ich gleichzeitig darüber nachdenke, wie ich Katja heute Abend ins Bett kriege und was ich gestern im Shanty für ein Schwein gehabt habe. Bei dem Gedanken an das Shanty sehe ich Lena verstohlen an und male mir aus, wie der Abend abgelaufen wäre, wenn sie mich zusammen mit Rita erwischt hätte. Grauenhaftes Szenario! Zwei kreischend aufeinander losgehende Bräute, und die Gäste und Kellner stehen drum herum und amüsieren sich königlich. Wenn ich mir das vorstelle…
    » Kannst du dir das vorstellen?«, reißt mich Lena aus meinen Grübeleien. » Das Problem besteht darin, dass ein russischer Investor nicht nach westlichem Format arbeiten kann. Ein gut organisierter Betrieb ist so aufgebaut, dass sein wirtschaftlicher Status quo jederzeit transparent ist, in russischen Unternehmen ist dagegen alles so angelegt, dass man aus Prinzip nicht durchblicken kann, verstehst du?«
    » That’s their fucking style«, antworte ich vieldeutig. » Die können und wollen es nicht anders.«
    » Eben! Fucking style!« Lena leert ihr Glas. » Und jetzt erklär mir mal, wie man da eine vernünftige Buchprüfung durchführen soll!«
    » Ich denke mal, genau das wollen sie gar nicht.« Ich nehme die Weinflasche und gieße ihr Glas bis oben hin voll. » Diese ganze Buchprüferei und mittel- und langfristige Planung ist doch bloß ein Zugeständnis an den aktuellen Trend. Man macht heute eben gern auf europäisch.« So ungefähr jedenfalls habe es ich kürzlich im Kommersant gelesen. Das passt hier ganz gut hin. » You know«, füge ich sicherheitshalber hinzu.
    » Hör mal, ich glaube, ich bestelle mir doch etwas zu essen, ich hab plötzlich schrecklichen Hunger!« Sie greift nach der Speisekarte. » Bei euch im Unternehmen arbeitet ihr natürlich nach dem GAAP -Standard, oder?«
    GAAP ? Ich vermute, das hat irgendwas mit internationalen Buchhaltungsstandards zu tun, aber sicher bin ich nicht. Um mich nicht zu blamieren, installiere ich meinen speziellen herablassend erstaunten Blick, den ich in solchen Situationen gerne zur Anwendung bringe. So in der Art: » Häschen, muss man darüber überhaupt ein Wort verlieren?«
    » Dumme Frage«, ruft sie eilig und hält lachend die Hand vor die Augen. » Ihr seid ja schließlich Amerikaner!«
    Ich leere den letzten Wein in mein Glas.
    » Lass uns noch eine Flasche bestellen«, schlage ich vor. » Und für dich etwas zu essen.«
    » Weißt du, mit dir könnte ich mich ewig unterhalten«, sagt sie statt einer Antwort. » Du bist ein unglaublich guter Zuhörer. Dabei kennst du

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