Nephilim
Schwingen fortsetzte. Es war, als würde eine massierende Hand über seine Flügel gleiten, er spürte, wie seine Kraft in sie hineinfloss, und als er sie mit klopfendem Herzen bewegte, überkam ihn ein Schauer. Seine Schwingen glitten wie von selbst durch den Raum. Sie fühlten sich viel leichter an als zuvor. Am liebsten hätte er sich sofort in die Luft erhoben, doch da schüttelte Morpheus den Kopf.
»Es werden sich noch genug Gelegenheiten ergeben, bei denen du den Harnisch testen kannst«, sagte er mit einem Lächeln. »Doch nun solltest du ihn ablegen, damit wir uns den wirklich wichtigen Dingen widmen können.«
Ein wenig enttäuscht streifte Nando den Harnisch ab, legte ihn zurück in die Kiste und ließ sich erneut auf den Schemel sinken, während Morpheus zwischen den Pergamenten auf dem Schreibtisch herumwühlte. Dabei beförderte er einige der winzigen Roboter auf den Boden, von wo aus sie umgehend an Nandos Beinen emporklommen, um auf den Tisch zurückzukehren, und fand schließlich ein Monokel, das an einer kupferfarbenen Kette hing.
»Nun«, sagte Morpheus, während er das Glas mit einem Ärmel seines Morgenrocks säuberte. »Dein Arm hat dir vermutlich bereits Probleme bereitet, seit du in Bantoryn bist, nicht wahr?«
Nando nickte. »Ich habe Schwierigkeiten damit gehabt im Kampf, und … «
Morpheus hob wissend die Brauen und klemmte sich dann das Monokel vor das rechte Auge. »Krempel deinen Ärmel nach oben und streck den Arm aus.«
Nando tat, wie ihm geheißen wurde, und sofort surrten mehrere der kleinen Roboter in die Luft, verformten ihre Gestalt und stützten seinen Arm, so dass er ihn ruhig ablegen konnte. Nervös warf er Kaya einen Blick zu, doch diese schaute so gebannt auf die winzigen Flugobjekte, dass sie es nicht zu bemerken schien. Morpheus zog einen dünnen metallenen Stab aus einer Schublade seines Schreibtisches und fuhr damit langsam vom Ellbogen aus über Nandos Arm bis hinab zu den Fingern. Unterschiedliche Farben flammten an der Spitze des Stabes auf, und Morpheus’ Miene verfinsterte sich zusehends. Schließlich legte er ihn beiseite, ließ das Monokel in seine Hand fallen und seufzte tief.
»Mehrere Nerven, unter ihnen der Nervus medianus, der Mittelarmnerv, sind irreparabel geschädigt«, stellte er fest. »Für gewöhnlich führt diese Tatsache dazu, dass die Pronation und Beugung der Hand stark eingeschränkt sind, die ersten drei Finger können nicht mehr gebeugt werden, der Daumen ist zum Handrücken hin gebogen. Doch die Auswirkungen sind von Mensch zu Mensch verschieden, und da in dir darüber hinaus ja nun bekanntermaßen mehr steckt als in anderen Menschen, treten die Folgen der geschädigten Nerven bei dir nur sporadisch in Schüben auf – immer dann natürlich, wenn man sie gerade nicht brauchen kann. Denn besonders die Greifschwäche ist fatal, vor allem im Kampf, das hast du selbst festgestellt. Versuchst du während eines Schubs, die Finger zu beugen, ist der Zeigefinger gestreckt, der Mittelfinger leicht gebeugt, während Ring- und kleiner Finger gebeugt sind, da deren Beugemuskeln vom Nervus ulnaris innerviert werden, der offensichtlich nicht beschädigt ist. Außerdem verfügst du während des Schubs in den beiden daumenseitigen Handdritteln vermutlich weder über ein Schmerz- noch über ein Tastvermögen und besitzt dort keine Temperaturempfindung mehr. Dann wieder hast du starke Schmerzen, die wahrscheinlich besonders bei Berührungen ausgesprochen heftig werden können. Da der Nervus medianus unmittelbar oberhalb der Hand recht oberflächlich liegt, sind solche Schäden häufig bei Schnittverletzungen, beispielsweise durch einen Selbstmordversuch.«
Er kniff die Augen zusammen und betrachtete Nando prüfend. »Diese Narben zeugen nicht davon, dass deine Verletzungen von einem solchen Suizidversuch herrühren – es sei denn, du wärest ihn ausgesprochen stümperhaft angegangen.«
Nando schüttelte den Kopf. »Als ich acht Jahre alt war, hatten meine Eltern und ich einen Unfall. Ein Tier ist vor unser Auto gelaufen, mein Vater hat die Kontrolle über das Fahrzeug verloren, wir krachten gegen einen Baum. Ich wurde aus dem Wagen geschleudert, aber meine Eltern wurden darin eingeklemmt und … « Er stockte. Etliche Male hatte er nun schon von diesen Geschehnissen berichtet, bei Freunden, neuen Bekanntschaften oder Ärzten, und doch fiel es ihm auf einmal schwer, den Satz zu Ende zu bringen. Vielleicht lag es an dem ruhigen, durchdringenden Blick
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