Nephilim
Kampftraining jeden Muskel im Körper fühlte und sein Kopf zu schwer war von all den neuen Gedanken und Formeln, als dass er noch weitere Dinge hätte aufnehmen können, streifte er durch das Mohnfeld vor den Toren der Stadt und ließ die Sehnsucht aufbrechen, die er für gewöhnlich tief in sich vergrub – die Sehnsucht nach der Oberwelt.
Nicht nur seine Freunde und seine Familie fehlten ihm, sondern auch der Duft Roms und das Gefühl, durch die Straßen gehen zu können, ohne misstrauisch beobachtet zu werden. Denn auch, wenn es seit Noemis Übergriff im Schlangenviertel keine offenen Anfeindungen mehr gegeben hatte, fühlte Nando sie doch: die heimlichen Blicke, wenn er allein oder in Begleitung von Kaya, Antonio oder Morpheus durch die Stadt ging, das Wispern hinter seinem Rücken und die Kälte, die grausam und feindselig zwischen ihm und den anderen Nephilim lag. Besonders in den einsamen Nächten, in denen Kaya in ihrer Geige schlummerte, in denen Musik über die Dächer klang in dem ewigen Spiel aus Frage und Antwort, sehnte Nando sich nach der Welt der Menschen, und er stellte sich häufig den Mond vor, dieses schöne und zugleich so traurige Gestirn, das es unter der Erde trotz Sternen aus Feuer und Eis niemals geben konnte. Doch immer dann, wenn Nandos Heimweh nach der Oberwelt zu groß wurde und er glaubte, keine einzige Formel mehr lernen und keinen Schwerthieb mehr ausführen zu können, waren Morpheus und Kaya für ihn da und ganz besonders Antonio, dieser schweigsame Engel, der die Straßen Bantoryns durchschritt wie eine Legende aus lang vergangener Zeit. Oft brach er in Nandos tiefste Verzweiflung, legte seinem Novizen die Hand auf die Schulter und neigte kaum merklich den Kopf vor ihm. Dann floss ein Wärmeschauer durch Nandos Körper, und Antonio lächelte leicht, als hätte ein Schmetterlingsflügel seine Wange gestreift, ehe er Nando allein ließ. Vergiss nicht, dass du stark bist , sagte der Engel ihm oft während ihrer gemeinsamen Lektionen . Vergiss nicht, dass das, was in dir ruht, eine Gabe ist – jedes einzelne Talent in deiner Brust, und dass es eine Sünde wäre, es nicht auszubilden. Keine Sünde vor Gott, ich weiß nichts von Gott, und auch keine Sünde vor mir oder einer anderen fremden Seele. Sondern eine Sünde vor dir selbst.
Eines Abends rief Antonio seine Klasse zusammen und führte sie durch die Brak’ Az’ghur hinauf in Richtung Oberwelt. Sie gelangten in die Priscilla-Katakomben unter der Villa Ada im Norden Roms. Mehrere Ritter der Garde begleiteten sie, um sie durch die meist stark von Engeln überwachten Gänge der Schatten zu führen. Sie verhalten sich außergewöhnlich ruhig , hatte einer der Ritter gesagt. Fast so, als würden sie ihre gesamte Aufmerksamkeit gerade für etwas anderes benötigen. Eine unheilvolle Stimmung hatte sich nach dieser Aussage über die Gruppe gelegt, doch sie waren keinen Engeln in den Gängen begegnet, und schließlich verlor sich die Anspannung in der kühlen Atmosphäre der Katakomben, die in vollkommener Stille dalagen. Jedes Geräusch wurde von den Grabnischen verschluckt, die zu beiden Seiten des Ganges in den Tuff geschlagen worden waren.
Nando hörte nichts als seinen eigenen Atem, die dumpfen Schritte der anderen Nephilim und das leichte Scharren, wenn jemand mit seinen Schwingen gegen die Wände stieß. Antonio trug eine Fackel, deren Lichtkranz auf seine Novizen fiel, doch außerhalb dieses Kreises herrschte schattenhafte Finsternis. Immer wieder flackerte der Schein der Fackel über die Grabnischen, und Nando bemerkte den feinen dunklen Staub in den Loculi als Überreste jener Menschen, die in den Katakomben ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Vereinzelt sah er Wandgemälde, kunstvolle Mosaike und mit Fresken verzierte Bogengräber, und während er vorsichtig mit den Fingern über den kühlen Stein der Arcosolien strich, spürte er die Aufregung in seinen Adern wie schwelende Glut. Anfangs war er bei jedem plötzlichen Geräusch aus der Dunkelheit zusammengefahren, aber er lernte schnell, die Geräusche jenseits des Lichts richtig einzuordnen, und mit jedem Gang, den sie duchquerten, wich seine Anspannung vor der freudigen Erwartung, in die Welt der Menschen zurückzukehren – zum ersten Mal, seit er sie verlassen hatte. Es schien ihm, als würde er eine alte Freundin wiedersehen. In seinem früheren Leben war er häufig in den Katakomben Roms gewesen, aber nie hatte er etwas wie Ehrfurcht dabei empfunden wie in diesen
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