Nephilim
Momenten. Schweigend ließ er den Blick durch die Cubicula schweifen, die sie passierten, und es schien ihm, als würde er aus den Grabkammern die flüsternden Stimmen der Verstorbenen hören, denen Wunder und Magie nicht fremd waren und die ihn als das wahrnahmen, was er war: ein Kind der Schatten, das sich nun durch die Eingeweide der Stadt zurück ins Licht schob.
Sie hielten inne, als Antonio die Hand hob und ein Portal öffnete, das sie in einen anderen Bereich der Katakomben führte. Kalte Luft wehte ihnen entgegen, und Nando zog die Arme um den Körper, als er den niedrigen Gang betrat, durch den Antonio sie führte.
In schneller Folge öffnete der Engel weitere Portale, ehe er vor einem flackernden Lichtkegel innehielt. »Ihr seid Krieger der Schatten«, raunte er seinen Novizen zu. »Doch nun begebt ihr euch ins Licht der Oberwelt. Vergesst eines niemals: Wenn die Menschen euch bemerken, werden die Engel euch finden. Verhaltet euch unauffällig. Erinnert euch, dass einige Engel gerade vor wenigen Tagen auf eine unserer Gruppen aufmerksam wurden, die an der Oberwelt trainierte, und die Verfolgten nur knapp dem Tod entgangen sind.«
Nando nickte nachdenklich. Er hatte von den Nephilim gehört, die bei einer Übung in der Nähe des Circo Massimo von Engeln entdeckt worden waren. Sie konnten zwar entkommen, doch zwei von ihnen lagen noch immer mit schweren Verletzungen im Hospital Bantoryns.
»Eure Prüfung zur höheren Magie nähert sich«, fuhr Antonio fort. »Ich weiß, dass ihr darüber rätselt, welche Aufgaben ihr erfüllen müsst, um sie zu bestehen. Doch das werdet ihr erst erfahren, wenn ihr ihnen begegnet. Denn auch jenseits der Ausbildung Naphratons weiß man nie, welche Prüfungen das Leben bereithält, und für eben diese sollt ihr gewappnet werden. Sicher ist, dass ihr während der Prüfung den Ovo gegenüberstehen werdet. Ihr Nebel wird euch vor den Engeln schützen, doch in ihm lauern andere Gefahren und Finsternisse, von denen ihr noch keine Vorstellung habt. Ihr müsst viel trainieren, um gegen sie bestehen zu können, und ihr müsst lernen, in der Oberwelt zurechtzukommen, wenn ihr euch nicht zeit eures Lebens in der Unterwelt verstecken wollt. Vergesst nicht, wer ihr seid: Krieger Bantoryns!«
Mit diesen Worten schritt er durch das Portal. Gesichert durch die Ritter folgten ihm seine Novizen. Nando spürte das flackernde Licht des Zaubers auf seinem Gesicht und fand sich in einem kleinen Tempel wieder. Die Statue des Asklepios erhob sich hoheitsvoll auf einem Sockel, und vier ionische Säulen ließen den Blick frei auf einen angrenzenden See, der von den Bäumen der Villa Borghese umkränzt wurde. Antonio trat ein wenig beiseite und gab den Rittern Instruktionen, die sich nacheinander in die Luft erhoben und den Park gegen mögliche Angriffe durch die Engel sicherten.
Nando bemerkte ihr Fortgehen kaum. Der Duft Roms zog in seine Lunge wie eine ferne Erinnerung und ließ ihn an die Zeit in Bantoryn denken, als wäre sie ein halb vergessener Traum. Nun glitt das fahle Licht des Mondes, der durch zerklüftete Wolken blickte, wie kühlende Schleier über seine Haut. Doch gleichzeitig war ihm die Welt fremd, in die er zurückgekehrt war, diese Oberwelt mit ihren grellen Leuchtreklamen, dem Lärm auf den Straßen, die den Park umgaben, und den Menschen, deren Stimmen wie prasselnde Hagelkörner auf Nando einschlugen, obgleich sie weit von ihm entfernt waren. Einerseits ließen sie ihn zurückweichen, erschrocken und vorsichtig wie ein scheues Tier, das mitten im Wald in einen grellen Lichtkegel gerät – und andererseits weckten sie die Sehnsucht in ihm, den Park zu verlassen und zu ihnen zu gehen, in ihrer Masse unterzutauchen und sich der Illusion hinzugeben, einer von ihnen zu sein. Mara huschte als wärmender Schemen durch seine Gedanken, ebenso wie Giovanni und Luca, die ihn in den vergangenen Wochen begleitet hatten wie Geister. Kein Tag war vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hatte, und er musste langsam ausatmen, um den Drang zu unterdrücken, auf der Stelle zu ihnen zu fliegen. Er senkte den Blick und betrachtete seinen metallenen Arm. Er war kein Mensch mehr, das hatte er gelernt, zumindest so lange nicht, bis er Bhrorok abgeschüttelt und seine magischen Begabungen ebenso wie seine Schwingen abgelegt hatte. So lange war er ein Bewohner Bantoryns, ein Wanderer zwischen den Welten – so lange war er ein Nephilim.
Er holte Atem, und der kühle, vertraute Duft Roms füllte ihn
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