Nephilim
Augen, hörte ein Scharren auf Stein – und sah im nächsten Moment unzählige Reihen gerüsteter Engel. Sie standen in Formation, die Blicke reglos zu ihm emporgerichtet, die Hände fest um Schwerter und Speere geschlossen. Geflügelte Pferde bildeten die Flanken, und dort, die Körper in schwarzem Feuer entbrannt, hoben Dutzende Chimären die Köpfe und schauten zu ihm auf.
»Ich rief sie«, flüsterte Anlorya an seinem Ohr. Ihr Atem war so kalt, dass die Luft erstarrte und wie frierendes Wasser zu knistern begann. »Mein Ruf eilte zu den Engeln der Wüste, den Engeln der Meere, den Engeln der Städte und fernen Provinzen, und sie schickten ihre besten Jäger, Späher und Krieger.«
Avartos hielt den Blick unverwandt auf die Truppen gerichtet. Es war ein Meer aus Leibern, das sich vor ihm erstreckte, und als er die Blicke sah und das flammende Gold in den Augen der Krieger, fühlte er sich wie von einer gewaltigen Woge emporgehoben. Da trat die Königin vor. Hoheitsvoll breitete sie die Arme aus und es wurde noch stiller in der Höhle, fast so, als hielten Engel, Pferde und Chimären den Atem an.
»Krieger des Lichts!«, rief Anlorya, und ihre Stimme donnerte über die Köpfe ihrer Zuhörer hinweg wie berstende Felsen. »Der Herr der Finsternis und des Chaos hat seinen Sohn entsandt, um seine Fesseln zu zerreißen und die Ketten zu sprengen, die wir ihm einst um die Klauen legten! Der Teufelssohn ist gekommen, und ich rief euch in all eurer Kraft! Denn wir dürfen nicht zulassen, dass die Mächte der Finsternis ihn bekommen, jene Mächte, die in unseren Reihen wüten, um ihre schrecklichen Ziele zu erreichen. Findet ihn zuerst, jagt ihn – und tötet ihn!«
Der Schlachtruf der Engel war ohrenbetäubend und brandete auf die Anhöhe zu wie ein entfesseltes Meer. Avartos holte Atem, die Stimmen der Krieger und die Schreie der Chimären drangen ihm ins Mark. Er hatte in zahllosen Schlachten gekämpft, doch niemals zuvor hatte er eine solche Übermacht im Kampf gegen einen einzelnen Nephilim befehligt. Er spürte den Drang, diese Kräfte zu entfesseln, sie durch die Gänge der Schatten brechen zu lassen wie einen todbringenden Strom aus Licht und Verderben, und für einen Moment gab er sich dieser Empfindung hin und ließ sich erneut von den Rufen der Krieger emporheben. Doch gleich darauf zwang er die Kälte hinter seine Stirn zurück. Er durfte die Ratten nicht in ihre Löcher treiben, er musste sie in Sicherheit wiegen, bis sie von ganz allein hinaus ins Licht krochen, und dann – dann würde er sie zerschmettern. Entschlossen erhob er seine Stimme im Chor der Armee, die vor ihm stand wie ein machtvoller eherner Leib, und ballte die Fäuste. Nicht allein die Mächte der Hölle jagten den Teufelssohn, auch er selbst, Avartos, war ihm auf den Fersen. Und mit dieser Armee würde er ihn finden.
21
Die modrigen Backsteine des Gewölbes fühlten sich feucht an unter Nandos Fingern. Er spürte jeden Muskel in seinem Körper, hörte jedes Geräusch, das durch den Bogen in der Mauer drang, und bewegte lautlos die linke Hand, deren metallene Streben im Halbdunkel des Atrium Vestae matt schimmerten.
Einige Tage waren seit seinem Ritt auf Matradons Rücken vergangen, Tage, in denen Drengur seine Novizen intensiv auf das Training im Forum Romanum vorbereitet hatte, das sie nun absolvierten, und in denen Nando vereinzelt leichte Veränderungen im Verhalten der anderen Novizen ihm gegenüber beobachtet hatte. Noch immer begegneten sie ihm mit kühler Zurückhaltung, aber hin und wieder bemerkte er, wie Einzelne ihn verstohlen beobachteten, wie sie über ihn sprachen, ohne dabei höhnisch das Gesicht zu verziehen, und wie sie sich bereitfanden, bei Partnerübungen ohne Murren mit ihm zusammenzuarbeiten. Der Ritt auf Matradons Rücken hatte ihm Respekt verschafft und es war, als würden die Novizen ihn mit anderen Augen sehen, je länger er als einer von ihnen in ihrer Stadt lebte und nicht dem Weg des einstigen Teufelssohnes folgte. Er wusste, dass dieser Prozess der Annäherung noch jung und überaus zerbrechlich war, doch es erfüllte ihn mit Stolz zu sehen, dass der Wall, den der Name Teufelssohn um ihn errichtet hatte, durch sein eigenes Handeln langsam bröckelte. Kaum merklich zitterte die Luft unter dem unsichtbaren Tarnzauber, der sich wie eine imposante Seifenblase über dem Forum spannte, um das Geschehen innerhalb der Ruinen vor menschlichen Augen und Ohren ebenso wie vor den Engeln zu verbergen. Nando spürte
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