Nephilim
seltenen Lächeln verbarg, und die Kraft, von der sie mehr in ihrem kleinen Finger hatte als Avartos nach jahrhundertelangem Training im ganzen Körper. Vor ihm saß der älteste Engel, den er kannte, und es fiel ihm nicht leicht, sich gegen das Gefühl der Ergebenheit zu wehren, das nun von ihm Besitz ergriff.
Sie betrachtete ihn ohne jede Regung, dann nickte sie, als hätte sie soeben eine Antwort auf eine Frage erhalten, die er nicht einmal gehört hatte. »Ihr tragt Schuld in Eurem Herzen«, sagte sie. »Aus welchem Grund?«
Avartos presste die Zähne aufeinander. Allzu gern verdrängte er, dass Anloryas Blick problemlos Fleisch und Knochen durchdringen konnte, wenn man sich nicht dagegen verwahrte. Ihr in die Augen zu schauen war, als erwiderte man den Blick eines Basilisken, doch er wandte sich nicht ab. »Ich habe Euren Auftrag erfüllt. Doch in der Zwischenzeit hat der oberste Dämon des Höllenfürsten uns schwere Verluste beigebracht, die ich nicht verhindern konnte. Ich habe mein Möglichstes getan, aber … «
Kaum merklich hob sie die Hand, doch er hatte früh gelernt, dass in ihrer Nähe auf jede ihrer Regungen zu achten war. Sofort verstummte er.
»Es ist nie genug, das Möglichste zu tun«, erwiderte sie, doch ihre Worte klangen weder herablassend noch tadelnd. Sie stellte nur fest, ohne zu urteilen, und umso schmerzhafter spürte er den Sinn ihrer Worte in sich widerhallen. »Wir sind Engel, Avartos, keine Menschen. Niemand verzeiht uns, wenn wir scheitern. Am wenigsten wir uns selbst.«
Avartos nickte leicht, und er bemerkte das Lächeln, das flüchtig auf ihre Lippen huschte und gleich darauf wieder erlosch.
»Der Dämon verhält sich ruhig«, fuhr sie fort. »Ich habe bereits Anweisung an alle Throne gegeben, sich nicht außerhalb Nhor’ Kharadhins aufzuhalten, bis er gefasst wurde. Doch Ihr wisst, wie die Throne sind. Sie lassen sich nicht einsperren und weder von Lockungen noch von Drohungen fangen. Viele werden sich an mein Gebot halten, doch andere werden weiterhin den freien Flug über den Dächern der Stadt genießen und die Bäder in den Seen, die von der Kraft des Laskantin durchzogen werden. Wir können sie nicht daran hindern, denn sie handeln, wie es in ihrer Natur liegt. Wir können uns nur bemühen, sie zu schützen, und das werden wir tun. Wir kennen die Ziele des Dämons, wir wissen, mit welchen Mitteln er den Teufelssohn finden will. Er steht kurz davor, seine Pläne umzusetzen, und uns bleibt nur eine Chance: Wir müssen ihm zuvorkommen.«
Avartos nickte kaum merklich, doch sie wandte ihren Blick ab und erhob sich. Ihre Schritte waren vollkommen lautlos. Nur ihr Haar raschelte leise, als sie sich bewegte, und ließ Avartos an das Geräusch der Wolken denken kurz vor einem erfrischenden Regenschauer. Sie trat auf die Wand zu und strich über eine winzige Kerbe im Stein, woraufhin sich eine Tür öffnete. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, ging sie die Wendeltreppe hinab, die sich dahinter auftat. Avartos beeilte sich, ihr zu folgen. Die Stufen waren uneben, als wären sie schon seit langer Zeit in Benutzung, doch er hatte diesen Weg noch nie gesehen. Ohnehin erschien es ihm mitunter, als würde sich die Engelsburg ebenso wie der Palast der Königin in Nhor’ Kharadhin nach ihrem Dafürhalten verändern, als würden sich Räume, Korridore und Türen verschieben, sobald sie nur daran dachte, und wären so Märchen, Labyrinth und Gefängnis in ewigem Licht. Niemand begegnete ihnen, während sie tiefer eilten. Sie liefen durch finstere Gänge und schmale Korridore, und gerade als Avartos das Wort ergreifen und fragen wollte, wohin sie gingen, hielt die Königin inne.
Sie standen vor einer steinernen Tür. Ein Luftzug drang durch den leicht gerissenen Rahmen in den Gang. Wie eine unsichtbare Klaue griff er nach Avartos’ Haar und strich es ihm aus der Stirn. Unmerklich fuhr er zurück, doch Anlorya bemerkte es sofort. Kühler Spott legte sich auf ihr Gesicht, als sie die Klinke niederdrückte.
»Seht«, sagte sie leise, und ein kaum wahrnehmbares Lächeln flog über ihre Lippen. »Seht, wie wir den Teufelssohn fangen werden!«
Avartos zog die Brauen zusammen, denn ein unheimliches Flackern hatte sich in die Augen der Königin geschlichen, und trat durch die Tür. Im ersten Moment sah er nichts als das schwarzblaue Licht, das aus Scheinwerfern von der Decke einer Höhle fiel. Er stand auf einer Anhöhe, doch mehr konnte er nicht erkennen. Unwillig fuhr er sich über die
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